Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
die Hand über dem Hörer, benommen, verwundert, fast als wäre es eine ganz besondere Leistung, in den Promi-Klatsch-Blog Manhattans zu kommen.
Sie sitzen um den Mahagonitisch in O’Hallorans Besprechungszimmer. »In seinem Büro macht gerade jemand eine eidesstattliche Aussage«, hatte seine Sekretärin entschuldigend gesagt und die Bergamots in einen holzgetäfelten, von Bücherwänden gesäumten Raum geleitet. Erst vergleicht Richard die üppige Ausstattung mit dem Raum, in dem er gestern den Vorsitz geführt hatte – beides sind plastische Beispiele zur Veranschaulichung des Unterschieds zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Und dann warten sie. Sie warten und warten auf O’Halloran. Richard lässt nie jemanden warten, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Allerdings hält O’Halloran die Zukunft von Richards Sohn in Händen. Es erinnert ein wenig ans Warten beim Hirnchirurgen, denkt Richard, verwirft den Gedanken aber schnell wieder. Die Analogie ist zu schrecklich und zu beängstigend.
Jake ist noch ein Kind. Er windet sich in seinem unbequemen Anzug. Er wirkt fast ausgewachsen und dabei irgendwie immer noch so klein – er scheint weder das eine noch das andere zu sein, eher ein Baby und nur aus bestimmten Blickwinkeln ein Mann. Richard war nicht einmal recht bewusst, dass sein Sohn sich plötzlich verändert hatte und viel älter wirkte. Ob er noch Jungfrau ist? Mit fünfzehn, fast sechzehn war Richard es nicht mehr. Erst in diesem Augenblick kommt ihm auch überhaupt der Gedanke, Jake könnte womöglich schon Sex haben. Die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage warten die Kids ab. Es nehmen auch nicht alle Drogen (diese Tatsache teilte Lizzie ihm mit, nachdem sie an einem Informationsseminar zum Thema Drogenmissbrauch bei Jugendlichen teilgenommen hatte: »Sechzig Prozent der Kids von heute experimentieren nicht mal mehr mit irgendwas herum«, wunderte sie sich). Richard hatte es noch nicht für nötig befunden, sich mit dem Thema zu befassen. Es schien ihm, als seien erst wenige Sekunden vergangen, seitdem er sich Jake schwungvoll auf die Schultern gesetzt hatte, Jake, der den Freudenschrei ausgestoßen hatte: »Mein Daddy!« Jake und seine Freunde wirken auf Richard so viel jünger als er damals in ihrem Alter – in ihrem Alter hatte Richard sich den Weg ins Internat erarbeitet, ein Stipendium ergattert, in der Schule eine Freundin gehabt, die mit Diaphragma verhütete und deren Mutter sie zu ihrer eigenen Frauenärztin in Beacon Hill mitnahm. Er hatte immer ein Kondom bei sich, in der Hosentasche gleich neben dem selbst verdienten Geld.
»Sean O’Halloran«, sagt O’Halloran, während er den Raum betritt. Er ist klein, rothaarig, sommersprossig und blauäugig. Mit beginnender Glatze. Eine sehr gepflegte Erscheinung im Dreiteiler – genauso wie auf dem Foto, das Richard gegoogelt hatte. Die Sekretärin, die sie vorhin hereingeführt hatte, begleitet ihn, eine adrette Frau in den Fünfzigern. Sie trägt eine kurze Perlenkette. Vielleicht sollte Lizzie auch Perlen tragen. Vor etwa fünfzehn Jahren hatte Richard ihr welche gekauft, eine etwas längere Kette, die ihr Schlüsselbein anmutig umschmeichelte, doch die hatte er an Lizzie bisher nur selten gesehen. Höchstens bei Einstellungsgesprächen und Beerdigungen. Und beim Dinner mit dem Verwaltungschef der Uni, als sie Richard für diesen Job so heftig umworben hatten. Meistens ruhten die Perlen jedoch in der Schmuckschatulle auf ihrem Frisiertisch und verstaubten dort.
O’Halloran schüttelt Richard die Hand, dann Jake – eine kluge Geste, bemerkt Richard –, als Letzte ist Lizzie dran. »Dein Vater und ich haben schon telefoniert«, wendet O’Halloran sich an Jake. »Ich will also hier keine Zeit vergeuden. Du hast da ja gewaltigen Ärger. So wie ich das sehe, müssen wir uns um zwei Bereiche Sorgen machen, und zwar zunächst um die Schule. Wenn wir die dazu kriegen, davon abzusehen …«
»Sie haben ihn auf unbestimmte Zeit vom Unterricht ausgeschlossen«, unterbricht ihn Lizzie. »Und demnächst fangen die Prüfungen an. Das heißt, für jede Prüfung, die er verpasst, bekommt er null Punkte. Er ist in der zehnten Klasse, er hatte immer sehr gute Noten …«
»Sehr gut und gut, Mom«, wendet Jake ein.
»Damit sind seine Chancen, auf ein gutes College zu kommen, praktisch futsch. Außerdem will ich nicht, dass es für immer in seiner Schulakte steht. Richard, glaubst du, das bleibt so?«
Richard weiß es nicht. Für ihn ist
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