Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
selber, Mom.« Die Augen liefen ihm über, doch er hielt die breiten Schultern gestrafft.
Das erklärt jetzt also auch die beiden roten Kratzer in seinem pfirsichglatten Gesicht. Dazu der Marinesoldaten-Haarschnitt. Die Ohren, die wie bei einem Rehkitz zu beiden Seiten des Kopfes zucken. Richard hat Jake in einen Latino-Friseurladen auf der Amsterdam geschleppt, vorher noch im Büro angerufen. »Keinen Bürstenschnitt, aber fast so kurz.« Richard blieb dabei und schaute zu, wie die langen, kastanienbraunen Locken in anmutigen Spiralen aufs Linoleum fielen, wie Luftschlangen am Tag nach einer Party. Er hatte an dem Morgen nichts Besseres zu tun. Gestern war er zur Arbeit gegangen. Gestern hatte Richard »versucht, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um aus der Aufbruchstimmung der Sitzung Realität werden zu lassen«, doch er kämpfte auf verlorenem Posten. Gestern hatte er noch irgendwie die dumme, lächerliche Hoffnung gehegt, die Geschichte könnte tatsächlich im Sand verlaufen.
Den ganzen Vormittag über hatten Richards BlackBerry und das Telefon zu Hause wie verrückt geklingelt, seine E-Mail und sein Instant Messenger völlig durchgedreht. Gestern früh hatte Lizzie wie gewohnt Coco zur Schule gebracht, nachmittags hatte er sie aber dann abholen müssen, weil Lizzie ihn um die Mittagszeit fast hysterisch angerufen hatte, um ihm zu sagen, sie wolle Jake nicht allein zu Hause lassen, der arme Kerl sei völlig fertig, und obendrein könne sie das aufgeregte Getue dort beim Abholen nicht noch einmal ertragen. Alle bedrängten sie, wollten sich auf einen Kaffee treffen, mal reden. »Vorher wollte nie jemand mit mir Kaffee trinken«, wunderte sich Lizzie. »Die wollen doch nur lästern«, sagte sie, »die wollen über das Mädchen herziehen.«
Sie gab ihm eine Reihe von Anweisungen: Um Viertel vor drei sollte er dort sein, bis dahin war die Hälfte der Vorschulkinder schon gegangen, und er musste mit niemandem quatschen. Außerdem: »Bring Coco einen Snack mit, sie braucht bestimmt gleich ein bisschen Protein, keinen Zucker, also vielleicht einen Nussriegel oder einen kleinen Fruchtjoghurt. Du kannst ein Mini-Schinkenkäse-Sandwich holen, in dem Gourmetshop um die Ecke mit den großen Fenstern, außer du willst keinem über den Weg laufen …« Und dann: »Armer Jake! Der Junge liegt zusammengerollt wie ein Wurm auf der Couch. Ich hasse diese Göre.«
Es war nicht Richards Stil, sich zu verstecken. Er war pünktlich an der Schule angekommen und schlenderte lässig über den Gehweg, nickte fast allen, die ihm auch nur entfernt bekannt vorkamen, freundlich zu und schwang Coco hoch, hoch, hoch in die Luft und dann auf seine Schultern. »Mein Daddy ist da!«, schrie Coco bass erstaunt. »Mein Daddy!«, brüllte sie in die Menge, so als wäre er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Als er sie so vergnügt quietschen hörte, wurde Richard auf einmal bewusst, dass er seine Tochter in New York noch nie von der Schule abgeholt hatte. In Ithaca hatte er Coco immer dienstags und donnerstags mit hinauf in sein Büro genommen, wenn Lizzie ihr Seminar über die Gontscharowa, Picasso und Braque abgehalten hatte. Da ließ er Coco dann auf dem Rasen vor dem Fakultätsgebäude herumrennen und vergewisserte sich nur ab und zu mit einem Blick aus dem Fenster, dass sie die herumfläzenden Jungstudenten nicht nervte oder sie von ihren Verführungen oder vom Pauken abhielt. In New York war das Abholen dagegen bisher immer die Domäne ihrer Mutter gewesen.
An jenem Morgen hatte Richard Coco ebenfalls zur Wildwood Lower gebracht, nach der Schule würde sie mit einer Freundin nach Hause gehen. Sydney, »Clementines Mutter«, hatte am Vortag angerufen und gerade eine Nachricht hinterlassen wollen, als Lizzie tatsächlich an den Apparat ging. Normalerweise schaute sie erst, wer es war, und wenn sie mit demjenigen reden wollte, rief sie später zurück. Wer war Sydney? Wer war Clementine? War es überhaupt wichtig? Nachdem Coco also in einer schicken Banker-Maisonnettewohnung an der Park Avenue untergebracht war, brauchten ihre Eltern beim Abholen keinen Spießrutenlauf über sich ergehen zu lassen und mussten sich, solange sie im Büro ihres frisch gefundenen Anwalts waren, als zusätzlichen Pluspunkt auch wegen der Zeit keine Sorgen machen, abgesehen von dessen Stundenhonorar.
»Das war aber nett«, hatte Lizzie gesagt, nachdem sie aufgelegt hatte. »Sydney meint, Jake ist ein Unschuldslamm. Sie seien alle Unschuldslämmer, auch das
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