Die Zerbrochene Kette - 6
weg einen unheimlichen Blick in tiefe Abgründe, wo es gleich neben dem Pfad in bodenlose Tie fen ging. Dann richtete sie die Augen hastig wieder auf die sie umschließende Welt – die Pferde zu beiden Seiten, Jaelle dicht an sie gedrängt – und war froh über die Dunkelheit, die die schwindelerregenden Abstürze links und rechts verbarg. Magda hörte Jaelles mühsames Atmen. Immer wieder und wieder kam von den Gipfeln über ihnen der nervenzerfetzende Banshee-Schrei. Die Pferde zuckten und stampften; Magdas Pferd warf den Kopf. Sie zog den Zügel fester und versuchte, das verängstigte Tier zu beruhigen.
»Werden die Sattellaternen die Banshees nicht anzie hen?«
»Nein, sie sind blind«, antwortete Jaelle. »Sie spüren Wärme und Bewegung, das ist alles. Ich erinnere mich…«
Magda erfuhr nie, an was sie sich erinnerte. Im nächsten Augenblick erklang ein Banshee-Schrei in ihrer nächsten Nähe, das Packtier hinter ihnen schrie, und Magdas Pferd bäumte sich am Rand der Klippe auf. Das Packtier stürzte, schreiend, um sich tretend, und über seinem sich wehrenden Körper erkannte Magda undeutlich einen großen, nackten, bussardähnlichen Kopf und einen riesigen, unförmigen Körper. Der Schnabel hackte in den weichen Unterbauch des Packtiers und kam bluttriefend wieder in die Höhe. Magda zog ihr Messer, trat zurück, wartete auf den richtigen Augenblick zum Angriff. Der nackte Kopf fuhr in ihre Richtung herum, schnellte vor, und Jaelle faßte ihr Handgelenk und zerrte sie weg.
In hartem Flüsterton befahl Jaelle: »Laß es fressen! Es ist zu spät, um das Tier zu retten, und wenn das Banshee voll ist, läßt es uns in Ruhe!«
Magda sah das ein, aber die Schreie des sterbenden Packtieres, das entsetzte Wiehern der Pferde und der Gestank des großen Raubvogels bereiteten ihr Übelkeit. Die furchterregenden Klauen schlugen zu, kratzten, rissen, der böse Schnabel bohrte sich immer wieder und wieder in seine Beute, und Magda bedeckte das Gesicht mit den Händen. Jaelle zog sie hinter die Pferde. Dort lagen die Frauen versteckt und versuchten, nicht zu hören oder zu sehen, wie das Banshee mit glucksenden, rülpsenden Lauten fraß.
Gott, diese Klauen! Sie haben das Tier mit einem Schlag fast in zwei Hälften gerissen! dachte Magda.
Es kam ihnen sehr lange vor, bis das Banshee seinen großen Kopf hob, ihn uninteressiert von einer Seite zur anderen wandte, sich noch einen letzten Bissen einverleibte und schwerfällig davonwatschelte. Die Klauen hinterließen große blutige Abdrücke auf dem Schnee. Magda, die gegen einen Brechreiz ankämpfte, stand langsam auf. Das geweihtragende Packtier lag fast still, aber- und das war das entsetzlichste – es lebte noch und wimmerte dünn. Magda ertrug es nicht. Sie bückte sich schnell und zog ihm ihr Messer über die Kehle. Nach einem letzten Zucken war es tot. Hinter den Pferden lag Jaelle im Schnee und würgte.
Magda ging zu ihr. »Komm! Hilf mir, das Gepäck abzuladen und auf unsere Pferde zu verteilen! Und dann wollen wir machen, daß wir hier wegkommen, bevor alle Brüder und Schwestern dieses Untiers erscheinen und etwas abhaben wollen!«
Jaelle wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. Es sah grotesk aus, rot und fleckig. »Oh, das war entsetzlich… entsetzlich…«
»Ja. Aber es wäre noch viel entsetzlicher gewesen, wenn es eine von uns gepackt hätte.« Magda beugte sich über das tote Tier und schnitt die Gurte durch, die das Gepäck auf dem halb aufgefressenen Kadaver festhielten. Das ist der Gurt, den wir in dem Dorf neu gekauft haben! Mit Jaelles Hilfe gelang es ihr, das Gepäck von dem toten Tier zu entfernen, obwohl ihre Hände bald schlüpfrig von Blut und Eingeweiden waren. Magda hievte es auf den Rücken ihres Pferdes. »Verteilen können wir es morgen«, sagte sie. »Jetzt beeilen wir uns lie ber.«
Benommen von Müdigkeit und Entsetzen stolperten die Frauen weiter, höher und höher, und plötzlich, als sie eine Biegung in dem tief ausgetretenen Pfad hinter sich hatten, ging es nicht weiter aufwärts. Sie standen an der höchsten Stelle des Scaravel-Passes, und es gab keinen anderen Weg mehr als abwärts. Magda war zu erschöpft, um Erleichterung zu empfinden. Jaelle war kaum noch fähig, sich auf den Füßen zu halten, und Magda wünschte, sie hätte reiten können. Ganz bestimmt hielt Jaelle nicht mehr lange durch.
Das Gehen wurde ihnen jetzt leichter, obwohl die Pferde öfters ausglitten und stolperten. Nicht lange, und der nachlassende Schmerz in
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