Die Zerbrochene Kette - 6
ihren privaten Kokon und entdeckte, daß es Jaelle war. Sie hatte ihr Pferd quergestellt, so daß es den Weg blockierte, rückte mit dem Kopf dicht an Magda heran und brüllte: »Wir wollen eine kleine Pause machen und essen. Es kommt mir wie Stunden vor, daß wir gegessen haben, und weiter oben ist es gefährlicher anzuhalten!«
Sie stellten die Tiere zu einem Dreieck auf, Nase an Schwanz, und kauten in der Mitte dieses provisorischen Windfangs Trockenfleischriegel und Obst, was das erste gewesen war, das Magda oben in ihren Satteltaschen hatte finden können. Die Welt war so klein geworden, daß sie sich dabei ertappte, wie sie auf das Muster von kleinen blauen Vögeln in den Rücken von Jaelles wolle nen Fausthandschuhen starrte und sich fragte, ob Jaelle sie selbst gestrickt habe.
Dann fegte von den Höhen ein schriller, unheimlicher Schrei und übertönte sogar den kreischenden Wind. Es war ein langes, paralysierendes Geheul, das Magdas Ohren klingen ließ und sie beinahe körperlich lähmte. Sie keuchte, denn sie konnte sich denken, was das für ein Schrei war, noch bevor Jaelle feststellte: »Ein Banshee. Das habe ich befürchtet. Hoffen wir, daß der Wind seinen Richtungssinn verwirrt. Und denke daran, es nimmt lieber die Pferde als uns, also halte dich hinter ihnen in Deckung.«
Magda hatte von dem markerschütternden, lähmenden Schrei der großen, flugunfähigen Fleischfresser, die oberhalb der Schneegrenze lebten und von der Körperwärme und der Bewegung ihrer Beute angelockt wurden, gehört, aber mit eigenen Ohren vernommen hatte sie ihren Schrei noch nie. Von neuem ertönte der geisterhafte Laut, und Magda war es, als habe sich der Fleischriegel, den sie kaute, in ihrem Mund in Leder verwandelt.
Jaelle versuchte vergeblich, sich durch das Brausen des Windes verständlich zu machen. »Was ist, Jaelle?«
»Hier müssen wir uns entscheiden. Ich bin keine Expertin für den Scaravel, aber ich habe ihn immerhin schon bei Tageslicht überquert, du jedoch nicht, wie ich annehme. Weiter oben verengt sich der Pfad, so daß wir nicht mehr umkehren können, und es gibt nicht einmal eine ebene Stelle, um dort die Nacht zu verbringen. Zie hen wir weiter, können wir nicht mehr anhalten, bis wir auf der anderen Seite sind. Aber der Paß scheint offen zu sein. So oder so ist es ein Risiko, aber es ist dein Risiko und dein Hals. Versuchen wir es im Dunkeln, oder warten wir hier? Der Weg ist auch im Hellen nicht besonders gut.«
Magda dachte an den sich verengenden Pfad, die schrecklichen Fleischfresser der Gipfel, ihre eigenen schmerzenden Beine und das vom Wind brennende Gesicht. Und Jaelle ging es im Grunde nicht gut genug, um überhaupt zu reisen. Es ist nicht Jaelles Mission. Wenn ich sie in den Tod führe…
»Was würdest du raten?« fragte Magda.
»Ich würde gar nichts raten. Ich würde versuchen, nicht in eine solche Situation zu kommen. Aber einmal drin, bin ich eher dafür, weiterzugehen. Nur möchte ich nicht, daß du es dir leicht oder ungefährlich vorstellst, denn das ist es nicht. Dies ist deine letzte Chance, die Nerven zu verlieren.«
Sie durfte die Nerven auf keinen Fall verlieren. Wenn sie den Scaravel nicht heute nacht noch überquerten und er sich bei Tageslicht nach dem nächtlichen Schneefall als blockiert erwies… Magda sagte: »Und was ist mit dir, Jaelle? Du bist noch nicht kräftig genug…«
»Es ist beinahe ebenso gefährlich, hier umzukehren und wieder abzusteigen«, erwiderte Jaelle. »Und wenn wir hierbleiben, können wir erfrieren. Wenn du es schaffst, schaffe ich es auch.«
Magda war nicht so überzeugt davon, aber nachdem sie so weit gekommen war, wollte sie nicht mehr aufgeben. Sie schluckte den letzten Rest des Trockenfleisches hinunter. »Gut, dann versuchen wir es. Soll ich vorangehen und den Weg bahnen? Das hast du die ganze Zeit schon getan.«
»Von hier an bahnen wir keinen Weg mehr; wir lassen es die Pferde tun«, sagte Jaelle, »und wir bleiben zwischen ihnen für den Fall, daß ein Banshee auf der Suche nach einem Mitternachtsimbiß unterwegs ist!« Der Weg wurde jetzt sehr steil, doch da sie sich zwischen den beiden Reittieren zusammendrängten, griff der Wind sie nicht mehr so heftig an. Der Schnee knirschte hart unter ihren Füßen, und sie hielten sich an den Sätteln fest, um nicht auszurutschen. Der Pfad drehte und wand sich um hohe Felsen, die etwas Windschutz gaben. Hin und wieder erhaschte Magda zwischen den Beinen der Pferde hindurch oder über ihre Rücken
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