Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
schmutzigen Hände am Kittel abwischte. Ich nickte und bedankte mich.
„Dann noch … schönen Feierabend?“
„Schade“, dachte ich, „heute keine Schlachtviehskizze. Sie hätte neben dem traurigen Schweinegesicht so gut ausgesehen.“
Ich wandte mich um und fand bald einen Stieg, der den Eisberg erneut erklomm und mich vermutlich in bessere Viertel führen würde. Ich wusste gar nicht mehr, auf welcher Seite der Luftschiffhafen gewesen war, auch die Masten konnte ich im Dunkeln nicht sehen, und so stromerte ich etwas orientierungslos durch die schwimmende Stadt, begegnete Arbeitern auf dem Weg in eine Wirtschaft, Mädchen, die unter ihren pelzverbrämten Mänteln rasch nackte Waden zeigten, wenn ich ihnen zu nahe kam, und mir dann ihr perlendes Lachen hinterherwarfen, Matrosen auf Landgang und auch einem Trupp Sicherheitsmänner, die vor einem steil aufragenden Gebäude hin und her staksten. Das Gebäude war zusätzlich von einem hohen Metallzaun umgeben, doch der Eingang war frei zugänglich, und darüber prangte, von schwachen Glühlampen erhellt, ein Schild: Sankt-Franziskus-von-den-Armen-Stift .
„Geh nicht näher“, wisperte Ynge mit winziger Stimme. Es war Æmelies Stimme, und das rührte mich nun, da so viel Angst darin mitschwang, umso mehr an.
„Was ist damit?“
„Es sieht aus wie ein schrecklicher Ort“, wimmerte sie und schloss die Kulleraugen. Ich musste ihr recht geben – der hohe Turm aus Backstein, umgeben von allerhand bullaugenartigen Fenstern, ragte angsteinflößend in den bitterkalten Winterhimmel.
„Ich weiß gar nicht, wo ich hin soll. Es ist jetzt sehr kalt“, flüsterte ich Ynge zu. Diese Wahrheit wurde mir erst jetzt wirklich bewusst. Stundenlang war ich nun schon mit kalten Zehen und Fingern durch die Stadt gelaufen, trotz der fellgefütterten Stiefel und der Handschuhe, und nun sickerte die Kälte tiefer in mich ein.
In diesem Moment geschah etwas Unerhörtes.
Der Himmel begann zu tanzen, mit einer gewaltigen, stillen Kraft, in gleißendem Grün wie gebogene, gewundene elektrische Energie, die ihre Bahnen zwischen den Sternen zog.
Schweigend sah ich hinauf und hörte, dass man auch andernorts nicht unbeeindruckt blieb – ein gutes Indiz dafür, dass ich nicht eine weitere Stufe des Verrücktseins erklommen hatte. Ich lachte, und dann staunte ich still.
Auch die Wachmänner hatten innegehalten und blickten hinauf.
„Was ist das?“, rief ich ihnen zu, doch Ynge presste sich an mich und erzitterte, als ich mich dem hohen Backsteinturm einige Schritte näherte.
„Nordlicht.“
„Es sieht aus, als wäre es Gott“, stellte ich fest. „Oder eine elektrische Kraft.“
Ich war mir noch nie sicher gewesen, wo Gott anfing und wo die Gesetze, denen Æmelie hinterhergelaufen war, aufhörten.
„Ich weiß nicht, was es ist, aber es kommt immer nur in den Wintermonaten und immer nur, wenn man hoch genug im Norden ist“, sagte der Wachmann höflich. Ich tätschelte Ynge beruhigend.
„Siehst du“, flüsterte ich. „Die sind nett.“
Beim Anblick der Wachmänner kam mir aber ein Gedanke.
„Sagen Sie, guter Mann – wenn ich eine Meldung für die Polizei hätte, wo müsste ich dann hin?“
Er beschrieb es mir, während sein Kollege Ynge in meinem Arm mit einem seltsamen Blick betrachtete. Ich lächelte und streichelte ihre immer noch zerwühlten Locken.
„Hübsch, nicht?“
„Ähm, ja, sehr. Von ihrer Tochter?“
„Ich habe keine Tochter.“ Ich schluckte. Ich hatte keine Tochter. Ich hatte gar keine Kinder. Die Traurigkeit dieses Gedankens hätte mich beinahe heimtückisch von hinten niedergestreckt. Æmelie war fort, und nichts war von ihr übriggeblieben, nicht einmal eine süße, goldgelockte Tochter mit dem Verstand ihrer lieben Mutter. „Aber Sie haben recht: Eigentlich sollte ich eine haben, oder?“ Meine Stimme versagte, und ich wandte mich ab. Die beiden Wachmänner murmelten sich Wörter zu, die ich nicht mehr verstand, als ich davon hastete.
„Herr von Erlenhofen, ich sehe da keine Möglichkeit.“
„Aber meine Frau wurde ermordet!“
„Ja, in Venedig.“
„Aber die Spur führt hierher.“
„Verzeihen Sie – eine Spur, bestehend aus einem … einem …“
„Kondensator.“
„Einem Kondensator in einem angeblich wandelnden Leichnam führt Sie nach Æsta?“
„Nun gut, Sie wollen nicht ermitteln. Hier scheinen mir alle sehr unkooperativ, seit ich das Luftschiff verlassen habe. Gibt es in Æsta eine Fabrik für
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