Die zerbrochene Uhr
Hoffnung gewesen sei – also nicht gerade Gürkchen, aber doch sauer eingelegten Kürbis, immer wieder und alle Tage sauer eingelegten Kürbis.
10. KAPITEL
MITTWOCH, DEN 10.AUGUSTUS,
MORGENS
Sie war so leicht zu finden, daß Rosina sich des Gedankens nicht erwehren konnte: Die Stiftsdame wollte entdeckt werden. Melusine Nieburg saß, wieder einmal, in der Hainbuchenlaube am Rande des Gartens der Domina und blinzelte mit geröteten Augen in das dunstige Licht der Morgensonne.
»Verzeiht, Mademoiselle«, Rosina knickste vor dem zusammenzuckenden Fräulein. »Ich dachte nur …«
Sie hatte sich nicht überlegt, mit welcher Ausrede sie Mademoiselle Nieburg dazu bringen wollte, den Namen des Absenders ihres Briefes preiszugeben, dazu war keine Zeit gewesen, und so hatte sie auf eine Eingebung des Augenblicks gehofft. Aber die war gar nicht nötig.
»Oh«, seufzte Mademoiselle Nieburg und tupfte sich die Nase mit ihrem Spitzentüchlein. »Du bist es, Rosa.« Sie raffte ihre Röcke ein wenig, zum Zeichen, das Mädchen der Domina möge neben ihr Platz nehmen, und fuhr schon fort: »Ich danke dir sehr, daß du mir den Brief gebracht hast. Wirklich sehr.« Dann seufzte sie noch einmal, diesmal klang es allerdings geradezu entschlossen, und sah Rosina an. »Gewiß hast du mich neulich für äußerst exaltiert gehalten, so in Tränen aufgelöst, nur wegen eines Briefes.«
»O nein, Mademoiselle. Briefe können von großer Bedeutung sein. Ich würde auch nie wagen, mir ein Urteil zu erlauben. Aber gewiß«, sie schlug brav die Augen nieder, »gewiß war dieser Brief von einem Euch besonders teuren Menschen, und wenn mir auch die Zartheit und Tiefe Eures vornehmen Gemüts fehlt, so verstehe ich doch, nun ja, ich verstehe, daß ein Herz in Not und Zweifel zittern kann.«
Mademoiselle Nieburg neigte mit irritiertem Blinzeln den Kopf zur Seite, und tatsächlich fand Rosina selbst, daß diese Worte einem einfachen Mädchen nicht angemessen und auch gar zu süß geraten waren.
»Mademoiselle«, fuhr sie schnell fort, »ich bin nur eine Dienerin, aber doch nicht dumm, und mein Herz ist nicht grob.«
»Das sehe ich, Rosa.« Sie richtete sich zu ihrer ganzen kleinen Größe auf und heftete den Blick fest auf einen Rosenbusch voller tauglitzernder dunkelroter Blüten. »Das sehe ich«, wiederholte sie, »und obwohl es ungewöhnlich ist, äußerst ungewöhnlich sogar und wohl auch nicht schicklich – ach was, nun ist keine Zeit für Schicklichkeit. Rosa«, sie drehte sich um und sah ihr gerade ins Gesicht, »ich brauche deine Hilfe. Ich habe niemanden sonst, den ich fragen könnte, und ich glaube, niemand als du ist geeigneter für meinen Auftrag. Obwohl er zweifellos nicht schicklich ist. Ganz und gar nicht. Willst du ihn dennoch für mich ausführen?«
Rosina hatte mit Tränen gerechnet, mit Herablassung, sogar mit der Verleugnung ihrer Begegnung am vergangenen Sonnabend. Aber niemals mit einem Auftrag, noch dazu mit einem, den Mademoiselle Nieburg für unschicklich hielt.
»Wenn Ihr mir auch anvertrautet, um was für einen Auftrag es sich handelt, Mademoiselle, werde ich ihn gerne für Euch ausführen. Handelt es sich wieder um einen Brief? Soll ich eine Nachricht für Euch überbringen?«
Rosina bemühte sich, nicht zu fröhlich zu klingen. Wenn es ein Brief war, konnte es nur einer an den geheimnisvollen Melchior sein. So einfach hatte sie sich nicht vorgestellt, herauszubekommen, wer er war.
»Ein Brief, ja.« Mademoiselle Nieburgs stolze Haltung schmolz, und ihre Augen wurden bedenklich feucht. »Ein Brief. Aber er ist nicht zu überbringen«, die erste Träne rollte über ihre rosige Wange, »nein, leider nicht zu überbringen, obwohl, nun, er ist«, ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab, »er ist zu holen. Verstehst du? Zu stehlen.«
Ein tiefer Schluchzer erstickte ihre Stimme. Rosina holte eilig ihr Taschentuch hervor und vertauschte es gegen Mademoiselle Nieburgs nutzloses Spitzentüchlein.
»Ich muß diesen Brief unbedingt haben«, schluchzte sie, »unbedingt. Dieser böse Mensch hat ihn gestohlen, so ist es nur recht, wenn wir ihn zurückstehlen. Nur recht. Dieser böse Mensch. Er hat so getan, als suche er Melchiors Freundschaft, und dann hat er ihm den Brief gestohlen, von seinem Sekretär. Und dann hat er gesagt, er werde … er werde«, wieder ertrank ihre Stimme in Tränen, doch schließlich putzte sie sich in dem festen Tuch des Mädchens der Domina die Nase und fuhr, immer noch von Zeit
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