Die zerbrochene Uhr
er sich, daß er es auf dem Boden des Klassenzimmers liegen sah, gerade als Doktor Reimarus sich über den Toten beugte. Ein Sonnenstrahl hatte es aufblitzen lassen, er hatte es gedankenlos und rein um der Ordnung willen aufgehoben und in die Westentasche gesteckt. Er war nicht sicher, wozu es diente, aber er wollte Zuckerbäckerknecht werden, wenn es nicht eines dieser kleinen Rädchen war, die das Werk einer Taschenuhr antrieben.
Erst gestern hatte ihm Monsieur Herrmanns erklärt, der Uhrmacher Godard sei noch nicht frei von Verdacht. Er habe behauptet, dem Toten seine Taschenuhr gebracht zu haben, da man jedoch weder in dessen Kleidung noch Wohnung eine gefunden habe, glaube der Weddemeister ihm nicht.
Das hier war keine Uhr, aber vielleicht ein Beweis, daß eine dort gewesen war. Ein winziges Rädchen nur, doch womöglich bedeutete es einen großen Schritt vorwärts bei der Suche nach Donners mörderischem Feind.
Eilig verstöpselte er das Tintenglas, schlüpfte in Weste und Rock und machte sich auf den Weg zur Wedde. Eine halbe Stunde später erzählten sich die Leute am Berg, Johann Samuel Müller sei der Mörder des seligen Monsieur Donner, der Rektor sei schon arretiert, man habe ihn in großer Eile mit dem Weddemeister über den Berg gehen sehen. Leider gab der Elblachsverkäufer zu bedenken, daß die beiden nicht zur Fronerei, sondern zum Johanneum unterwegs gewesen waren, jedenfalls seien sie in der Großen Johannisstraße verschwunden, direkt entgegengesetzt zur Fronerei, der Rektor auch immer einen halben Schritt hinter Wagner. Einer von der Wedde lasse doch einen Arretierten nicht aus den Augen und schon gar nicht ohne Fessel. Was keinen Beifall fand, denn daß der Rektor persönlich seinen Kollegen erstochen hatte, war eine zu schöne Geschichte. Der Mann mit dem geräucherten Elblachs machte an diesem Tag sehr schlechte Geschäfte.
Eine weitere Stunde später kehrte Wagner zur Wache zurück, faltete ein zerknittertes Stück Papier auseinander und besah sich seinen Fund noch einmal. Er hatte nicht lange suchen müssen. Ein winziger vergoldeter Zeiger und drei kaum größere Glassplitter hatten in einer besonders breiten Ritze zwischen den alten Holzbohlen des Klassenzimmers gelegen, nur einen Schritt von dem Stuhl entfernt, auf dem der Pedell den Toten gefunden hatte und der immer noch an der gleichen Stelle stand.
Godard hatte nicht gelogen. Er hatte die Uhr zurückgebracht. Sie mußte Donner heruntergefallen und zerbrochen sein. Warum? Wo waren die anderen Teile? Vor allem: Wer hatte sie? Ein ganz gewöhnlicher Dieb? War Adam Donner wegen einer alten Taschenuhr ermordet worden? Wenn der Hunger nur groß genug ist, dachte Wagner müde, morden manche schon um einen halben Schilling. Aber verirrte sich ein ganz gewöhnlicher Dieb ausgerechnet in das Johanneum?
Natürlich war es möglich, daß irgend jemand in die Schule geschlichen war, Donner getötet und ihm die Uhr gestohlen hatte. Vielleicht war sie bei einem Kampf heruntergefallen, vielleicht hatte der Tote sie gerade in der Hand gehabt und fallen gelassen, als ihn der tödliche Stich traf. Irgend jemand, vielleicht, womöglich. Wagner war kein phantasievoller Mensch, er hielt nichts von irgend jemand, vielleicht und womöglich. Wagner hielt sich an das Naheliegende, an das, was er sah. Eins und eins waren immer noch zwei.
Die Wohnung des Pedells war eng. Er lebte mit seiner Frau und einer Magd in einem der kleinen Häuser, die nahe der Johanniskirche aneinanderklebten wie Schwalbennester an einem Dachbalken. Seine Kinder hatten das Haus längst verlassen. Die Tochter war mit dem Küster von Kirchwerder verheiratet, die beiden Söhne hatten bei der ersten Gelegenheit auf einem Segler angeheuert und waren schon seit etlichen Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Beide hatten eine Armenschule besucht, der jüngere war für ein Stipendium am Johanneum ausersehen worden, aber das hatte sein Vater nicht erlaubt.
Thilde Töltjes öffnete die Tür. Muffige Luft schlug Wagner und Grabbe entgegen, aus der Küche gleich hinter dem winzigen Flur roch es nach Torffeuer und zu heißem Schmalz. Das Gesicht der Frau des Pedells war gerötet wie ihre knochigen Hände. Sie erkannte gleich, wer da vor ihrer Tür stand, und wischte sie sich eilig an der Schürze ab. Ihr Mann sei nicht da, sagte sie, es sei ihr nicht erlaubt, jemanden ins Haus zu lassen, wenn er nicht da sei. Auf keinen Fall.
Das sei eine gute Ordnung, aber leider, Wagner schob die hagere Frau
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