Die zerbrochene Uhr
Junge mit dem roten Haar, barfuß und ohne hörbare Sprache unheimlich.
Heute morgen hatte ihn diese Unruhe befallen. Er war in seinem kleinen Zimmer auf und ab gelaufen, war auch hinaus in den Innenhof der Schule gegangen, fühlte die Mauern bedrängender denn je und beschloß, seinen selbstauferlegten Arrest zu beenden und einen Besuch im Neuen Wandrahm zu machen.
Niklas war nicht dort. Er habe seinen Privatunterricht, erklärte Elsbeth, die, einen Kochlöffel noch in der Hand, die Tür geöffnet hatte. Danach wolle er allerdings nicht nach Hause kommen, sondern zum Gestüt hinausreiten. Die Fohlen seien nun schon zehn Wochen alt, und Niklas habe sie zuletzt im Juni besucht. Wenn sie es recht bedenke, müsse der Unterricht längst beendet und Niklas unterwegs nach Wandsbek sein. Es sei wohl ein langer Weg, aber Monsieur Christian sei schon am Vormittag mit Madame Augusta hinausgefahren und werde ihn gewiß gerne mit zurücknehmen. Niklas sei ja mit dem Fuchs unterwegs.
Der lange Weg schreckte Simon nicht, je weiter er ging, um so lebendiger und leichter fühlte er sich. Es war dumm gewesen, so lange im Zimmer zu sitzen. Dicke weiße Wolken schwebten am hohen, tiefblauen Himmel, die glasklare Luft und ein sich langsam heraufschiebender grauer Streifen am Horizont prophezeiten, daß die sommerlichen Tage nicht andauern würden. Auf den Wiesen harkten Bauernfrauen und -kinder mit großen hölzernen Rechen Heu zusammen, und ein Wagen voller graugelber Garben schaukelte langsam mit seiner wertvollen Fracht zu einem der Höfe abseits der Straße.
Es war immer noch heiß. Simon ging einige Schritte beiseite ins Gras und sah zurück auf die Stadt. Die mächtigen Wallanlagen ließen nur noch die Kirchtürme sehen, grün vom alten Kupfer. Die Reihe der Wagen, die aus der Stadt hinaus und nach Osten fuhren, schien ihm dichter geworden zu sein. Er sah auch Kutschen, eine vornehme, schwarz glänzend und von vier prächtigen Rappen gezogen, und eine schlichte Mietkutsche, schmal und mit dem Staub der letzten Wochen bedeckt, deren kurzstößiges Holpern verriet, daß die Reisenden an ihrem Ziel jeden einzelnen Knochen im Leib spüren würden. Der lange Weg hatte Simon durstig gemacht, er beugte sich über eine Sauerampferstaude, zupfte ein paar junge Blätter ab, wischte sie sorgfältig über seinen Jackenärmel und steckte sie in den Mund. Vielleicht sah er nur deshalb den Reiter nicht, der trotz des beständig von den Hufen der Zugpferde und den großen Rädern aufwirbelnden Staubes zwischen den beiden Kutschen ritt.
Nicht lange darauf erreichte Simon die zweite Windmühle. Leiterwagen und Schubkarren standen in ihrem Hof, alle beladen mit Säcken voller Getreidekörner. Der Wind wehte Männerstimmen herüber, die stritten, wer zuerst dagewesen war und wessen Korn zuerst gemahlen werden müsse. Manchmal, wenn Simon über seinen Büchern brütete oder wenn der Unterricht gar kein Ende nehmen wollte, stellte er sich vor, wie schön es sein müßte, ein Bauer zu sein, nicht ein armer Kätner oder Leibeigener natürlich, sondern ein freier Mann auf eigenem Land unter dem weiten Himmel. Nun dachte er an die gekrümmten Rücken der Kinder im Heu, sah die schweren Karren mit den grob geflickten Säcken, hörte die harten Stimmen und war nicht mehr so sicher.
Rasch bog er in den schmalen Weg ein, der, wie Elsbeth gesagt hatte, nur wenige Schritte nach der Mühle links in einen Erlenwald führte. Schlagartig verschwand der Staub, die Luft strich kühl und feucht über sein Gesicht. Der im tiefen Schatten liegende Weg schien nach dem hellen Sonnenlicht finster, und Simon fröstelte. Der Wald konnte nicht groß sein, und auch wenn er nach ihnen benannt war, wuchsen hier nicht nur Schwarzerlen, sondern auch lichtere Gewächse wie Kopfweiden, Strauchbirken, Haselsträucher und allerlei andere, deren Namen Simon nicht kannte. Am Rand des Weges wucherten Nachtschatten und Springkraut und breit ausladende Farne.
Der Weg wurde zum Pfad. Simon folgte ihm um eine scharfe Biegung, und alle Geräusche der Straße, die Rufe und das Poltern der Wagen auf dem hartgefahrenen Grund, Peitschenknall und der dumpfe Klang der Hufe verschwanden wie hinter einer Wand. Er hörte keinen Vogel, sah kein Tier, dennoch schien der Wald voller Augen. Er spürte sie, aber er würde sich nicht umdrehen, er würde auch nicht feige laufen, er würde einfach weitergehen, bis er wieder freies Feld erreichte und die Dächer des Gestüts sah. Es sei nicht weit, hatte
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