Die zerbrochene Uhr
einfach beiseite, könne er darauf keine Rücksicht nehmen. Außerdem sei er kein Fremder, sondern der Weddemeister, und das Mädchen, er wies auf das Gesicht, das sich verstohlen in der Küchentür zeigte, solle bleiben, wo es sei, er wolle sich nur ein wenig umsehen.
»Umsehen? Aber Ihr seht doch, wir haben nichts, was sich ansehen ließe, wir …« Es nützte nichts.
Das Häuschen war klein, aber Wagner hatte schon erbärmlichere Behausungen gesehen. Hier führte immerhin von der Küche noch eine schmale Stiege hinauf zu einer Schlafkammer und einer guten Stube, und unter dem schrägen niedrigen Dach gab es einen Verschlag, in dem Karlas Bett und eine alte Kiste für ihren mageren Besitz standen.
Wagner und Grabbe hatten das Häuschen bald durchsucht. Sie hatten in Töpfe und Kisten geschaut, Betten aufgeschüttelt und die Kleidung der Töltjes’ in der Truhe neben ihrem Bett inspiziert. Auch den schmalen Verschlag neben der Küche hatten sie nicht ausgelassen, doch außer einer mit Wein gefüllten Flasche aus grobem grünlichem Glas und ein paar Aprikosen fanden sie dort nur, was sie erwartet hatten: Mehl und eine mit einem Tuch bedeckte Schale Fett, einige Würste, Körbe mit Bohnen und Erbsen, Tontöpfe mit eingelegtem Gemüse, eine Schüssel mit Sauerteig, ein paar Hanfstränge mit getrockneten Äpfeln und Kräutern – die üblichen Vorräte eines ärmlichen Haushalts. Nirgends eine Taschenuhr oder auch nur ein Bruchstück davon.
Gewiß hätte Wagner sie nie entdeckt, wenn ihm nicht aufgefallen wäre, daß das Mädchen, das ihm mit der Frau des Pedells auf jeden Schritt folgte, während der ganzen Zeit der Suche ihre rechte Hand in der Schürzentasche hielt. Er griff nach ihrem Handgelenk, zog es heraus, und so fand er endlich Adam Donners zerbrochene Uhr in einen Fetzen Baumwolltuch gewickelt in Karlas Faust. Sie weigerte sich nicht, sie zu öffnen, sie schlug auch selbst das Tuch auseinander. Dann hielt sie ihm ihre Hand entgegen, scheu und behutsam, als biete sie ihm ein Geschenk, von dem sie nicht sicher war, ob es ihn freuen würde.
Die Stadt lag nun schon eine ganze Weile hinter ihm. Er hatte sie durch das Steintor verlassen, war die lange Allee entlanggewandert bis zum Vorwerk hinter St. Georg, hatte dessen Tor bei der mittleren Bastion passiert und endlich das freie Feld erreicht. Kleine Wagen aus den nahen Dörfern fuhren in beide Richtungen, die meisten der großen Wagen, hochbepackt und vier-, sechs- oder gar achtspännig, kamen ihm entgegen, schmutzbedeckt von der langen Reise von Lübeck.
Simon war diese Straße erst einmal gegangen, im letzten Mai, als Niklas ihn zum Wandsbeker Gestüt mitgenommen hatte. Es war unmöglich, falsch zu gehen. Das staubige Band führte immer geradeaus, ließ die Dörfer weit links und rechts liegen, selbst die Abzweigung war leicht zu finden. Wenn er an der zweiten Mühle vorbeikomme, sie stehe rechts der Straße wie auch die erste, hatte Elsbeth ihn erinnert, seien es nur noch ein paar Schritte, dann müsse er links abbiegen und durch den kleinen Erlenwald gehen. Er solle aber unbedingt auf dem Weg bleiben, es sei zwar schon lange trockenes Wetter, doch dort sei es immer morastig. Dann sehe er schon die Dächer und auch die Pferde, die gewiß auf der Koppel seien.
Die letzten Tage waren grau gewesen, er mochte sein Zimmer kaum verlassen, und Madame und Monsieur Müller hatten ihn nicht gestört. Nach seinem ersten Ausflug an den Hafen war ihm auch darauf die Lust vergangen. Nur einmal noch hatte er geglaubt, einen dunklen Schatten nahe dem Eingang zur Schule und zur Rektorswohnung zu sehen, aber es gab in der Nacht viele Schatten von mancherlei Ursache, und die meisten, so hatte er sich immer wieder versichert, entsprangen nur der Phantasie. Zweimal hatte Niklas ihn besucht, begleitet von seinem seltsamen Freund Muto, dem jungen Komödianten, der niemals sprach, den Niklas dennoch verstand. Simon hingegen verstand kaum etwas von dem, was der Junge ihm zu bedeuten versuchte, aber es schien Muto nichts auszumachen. Er nahm sich bald eines von Simons Büchern und überließ die beiden Freunde ihrem Gespräch. Simon hatte gedacht, Muto besehe sich nur die Bilder, doch bald bemerkte er, daß Muto auch in den Büchern las. Natürlich, bestätigte Niklas, könne Muto lesen, alle Beckerschen Komödianten könnten das. Das erstaunte Simon, er hatte nicht gedacht, daß einer, der nicht spreche, das Lesen und Schreiben erlernen könne. Trotzdem blieb Simon der
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