Die zerbrochene Uhr
Elsbeth gesagt, aber vielleicht war er in den falschen Weg eingebogen. Hatte sie nicht auch ›Weg‹ gesagt? Dies hier war nichts als ein morastiger Pfad.
Dann hörte er es. Zuerst glaubte er an eine Gaukelei seiner Furcht, aber nein, da waren tatsächlich Hufschläge. Ein Reiter näherte sich, ein menschliches Wesen in dieser dumpfen Düsternis. Warum erstarrte sein Körper? War das denn kein Glück?
Schon kam er um die Biegung. Simon versuchte ihm Platz zu machen, doch der Pfad war zu schmal. Der Mann auf dem Pferd wich tief über den Hals des Tieres gebeugt den herabhängenden Zweigen aus, schnell war er neben Simon, drängte ihn rüde vom Pfad in den Morast, beugte sich zugleich im Sattel vor, holte weit aus, und Simon traf der erste Schlag. Er taumelte, nur deshalb ging der zweite fehl. Das Pferd warf den schweren Kopf, tänzelte stampfend vorbei, doch bevor Simon sich besinnen konnte, war der Mann wieder da, stand nun vor ihm, einen Stein in der hochgereckten Faust. Woher hatte er den Stein? Hier konnte es keine geben. Der Stein, dachte Simon. Immer nur: der Stein. Geblendet vor Schrecken, taumelte er zurück in den Morast, fühlte seinen linken Fuß einsinken, und der nächste Schlag traf ihn nur knapp, doch hart über dem Ohr. Das Licht schwand und kehrte zurück, schwand und kehrte zurück. Gleich kam die eiskalte Flut, rauschte heran in der Finsternis. Die Sandbank, wo war die Sandbank? Rief da jemand? Rief da jemand: Simon? Die Flut! Wieder sah er über sich die Faust mit dem Stein – und dann fiel der Mann mitsamt der Faust mit dem Stein um.
Ein Wolf, dachte Simon, ein Wolf mit rotem Haar und nackten Füßen. Er versuchte zu sehen, was auf dem Pfad geschah, er konnte es nicht erkennen, in seinen Augen tanzten Lichter, und die Erde schwankte. Der dünne Wolf rang mit dem schwarzen Mann um den Stein, keuchend und knurrend. Er hörte wütende Rufe, einen Fluch, dann war es für einen Moment still, still wie zuvor, als er keinen Vogel gehört, kein Tier gesehen hatte. Eine dünne Faust krallte sich grob in den Ärmel seines Hemdes. Wo war sein Rock? Madame Müller würde ärgerlich sein, wenn er ohne ihn heimkam. Wo war er? Wieder zog ihn die Faust, sein Blick klärte sich, und er sah in Mutos Gesicht.
»Steh auf«, rief der Junge, der nicht sprechen konnte, und wieder klang es wie ein Knurren. »Auf. Komm. Komm schnell.«
Sein Körper erhob sich gehorsam, und es war, als sehe er ihm dabei nur zu, erhob sich und ließ sich fortziehen in die feuchte Finsternis des Gestrüpps unter den Schwarzerlen. Er fühlte seine Füße im Morast, fühlte immer noch die feste Hand an seinem Hemd, die ihn vorwärtszog, spürte die Dornen und harten Zweige des Gestrüpps in seinem Gesicht, und plötzlich war kein Grund mehr unter seinen Füßen, und er glaubte zu fliegen. Aber er flog nicht, er versank, langsam und immer tiefer. Er versuchte zu schreien, doch sein Mund blieb stumm, war taub, als sei er voller Morast, und endlich versank auch die Welt, und alles war still. Endlich war alles still.
»Verdammt«, Claes Herrmanns schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Da machen wir uns tagelang Gedanken, wo diese verflixte Uhr geblieben ist, ob sie überhaupt existiert hat, da hängt womöglich das Leben eines Menschen, gar eines exzellenten Uhrmachers, von ihr ab. Und wo ist das Ding? In der Schürze einer diebischen Magd. Was habt Ihr mit ihr gemacht? In die Fronerei gesperrt?«
Wagner schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so einfach«, sagte er. »Diebisch, meint Ihr. Das kann schon sein, aber ich bin nicht so sicher.«
»Was ist daran unsicher? Ihr habt die Uhr doch bei ihr gefunden. In ihrer Hand.«
Wagner griff in seine Rocktasche, holte das schon mehr als zerknitterte Bündel seiner kleinen Zettel hervor und begann sie vor sich auszubreiten.
»Es ist so«, sagte er, ohne den Blick von den Zetteln zu wenden, von denen einige verkehrt herum lagen, was er jedoch nicht zu bemerken schien, »da, wo sie ist, dient sie uns besser. Sie ist auch ein scheues Kind, zuckt gleich zusammen, wenn einer nur die Hand hebt, um sich am Ohr zu kratzen. Es muß nicht sein, daß sie die U hr gestohlen hat. Die lag zerbrochen am Boden, sie hat sie fortgeräumt, so wie sie alle Tage alles forträumen muß, was am Boden liegt. Die Uhr ist kaputt, sie tickt nicht mehr, für das Mädchen war sie Unrat.«
»Unrat? Das Uhrwerk aus Messing? Das versilberte Gehäuse?«
»Es mag Euch unglaublich erscheinen, aber das Mädchen, Karla,
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