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Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer

Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer

Titel: Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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erweist. Eine angesehene und gebildete … äh …«
    »Gefährtin?«, half Siath aus.
    »Ja«, sagte Shúria erleichtert. »Eine Gefährtin, die man sich ausleihen kann.«
    »Ach, du meinst, eine Tempelhure?«
    Die Ganesin lachte. »Offenbar hat es dein kleiner Löwe faustdick hinter den Ohren.«
    »Sein Vater erzählt ihm manchmal etwas mehr über die Welt, als mir lieb ist«, erklärte Shúria. Ihr Blick heischte in der Runde der Gefangenen um Verständnis für die Sachkunde ihres frühreifen Sprösslings. Doch die Menschen hatten andere Sorgen. Das fürchterliche Wort, das Siath so eiskalt ausgesprochen hatte, steckte ihnen noch in den Knochen. Die meisten wünschten sich wohl, das Rumpeln der eisenbeschlagenen Räder möge niemals aufhören, dann bräuchten sie auch nicht auszusteigen und sich der Selektion zu stellen.
    Der Transport endete nur wenig später am Rand eines runden Platzes, auf dem es von Menschen nur so wimmelte. Aberhunderte warfen sich auf dem terrakottafarbenen Pflaster vor einem goldenen Standbild nieder. Manche schrien vor ekstatischer Verzückung, andere bluteten an den Armen oder im Gesicht aus zahlreichen Wunden, weil sie sich mit Messern die Haut aufritzten. Ein Areal zur Linken war mit einer Art Zaun abgesperrt. Dahinter reihten sich Männer, Frauen und Kinder mit furchtvollen Mienen und leeren Blicken – menschliches Strandgut ungezählter Schollen, die eine rätselhafte Macht ins Labyrinth der tausend Scherben gezogen hatte.
    Soldaten der königlichen Armee trieben die neuen Gefangenen aus dem Wagen und zwangen sie, sich in einer Reihe aufzustellen. Shúria blieb mit Ari dicht bei Siath. Im Gegensatz zu manch anderen, die sich lauthals beschwerten, weinten oder einfach nur gramgebeugt vor sich hin wimmerten, stand die Ganesin kerzengerade in der Schlange, so als könne nichts und niemand sie erschüttern. Ihr Blick war trotzig auf den im Sonnenlicht glitzernden Götzen in der Mitte des Platzes gerichtet. Er stellte einen Fisch mit einem bärtigen, gelockten Haupt dar. Gegenüber erhob sich ein monströses Gebäude, ein mit Stuckornamenten verzierter, von hohen Pilastern und Rundbogenfenstern umgebener Zylinder mit Flachdach, der vollständig mit feuerrot emaillierten Ziegeln verklinkert war.
    Der Tempel des Dagon.
    Zu beiden Seiten befanden sich sichelförmige Kolonnaden, die den Vorplatz wie schirmende Hände umschlossen und mit dem Rundbau verbunden waren. Unter der Decke reihten sich schwarze Blöcke, ebenso hoch wie die Säulen, mit bronzenen Toren darin. Vom Dach der Säulengänge strebten lange Schornsteine in den blauen Himmel. Aus einigen kräuselte sich dunkler Rauch empor.
    Obwohl es brütend heiß war, fröstelte Shúria. Die Lage, in der sie sich befanden, hatte beklemmende Ähnlichkeit mit ihrem Albtraum. Es musste wohl tatsächlich eine düstere Vorahnung gewesen sein. Innerlich wappnete sie sich für das Schlimmste.
    Die Soldaten trieben die verstörten Gefangenen an den Betenden vorbei hinter die Absperrung, wo sie sich am Ende der Schlange einreihen mussten.
    »Verfügst du über irgendwelche Geisteswaffen?«, raunte Shúria der Ganesin zu.
    »Nichts Besonderes«, antwortete Siath und klatschte in die Hände. Auf jeder Handfläche entstand eine kleine Feuerzunge. Rasch machte sie zwei Fäuste, um die Flammen wieder zu löschen.
    »Besser als gar nichts«, sagte Shúria, um ihre Enttäuschung zu verbergen.
    Die Ganesin zuckte mit den Schultern. »Eine Begabung, die ich mit meiner Schwester Ischáh teile. Mehr habe ich leider nicht zu bieten. Du bist Seherin, nicht wahr?«
    Shúria nickte.
    »Und? Wie geht der heutige Tag aus?«
    Sie antwortete nicht. Ihre Rechte schloss sich fester um Aris Hand, während ihr Blick zum Kopfende der Menschenschlange wanderte. Gerade hatte unter dem Kolonnadendach eine fast zwergenhaft kleine Frau zu schreien begonnen. Links von ihr wurde eine Bronzetür geöffnet. In dem Tor kamen lodernde Flammen zum Vorschein.
    »Die Glückliche. Sie hat es geschafft«, war alles, was die Ganesin nach ausgedehntem Schweigen sagte. Lange hatte sie nur mit starren, leeren Augen vor sich hin geblickt. Die Warteschlange war mittlerweile erheblich kürzer geworden.
    Shúria schüttelte verständnislos den Kopf. »Was haben sie dir nur angetan, Siath, dass du einen so grausamen Tod herbeisehnst?« Tröstend strich sie Ari über den Rücken, der sein Gesicht in den Falten ihres blauen Gewandes vergraben hatte und gelegentlich schluchzte. Sie war kaum

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