Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
auskannte. Der sie lehren konnte, in diesem Sumpf unmenschlicher Verdorbenheit nicht unterzugehen.
Sie drückte die Hand ihrer Schicksalsgenossin etwas fester. »Was hat es mit den Hetären auf sich, Siath? Dienen sie nur dem Vergnügen der Männer?«
»Sie sagen, es sei ein Ritus. Für die Fruchtbarkeit von Feld und Mutterschoß«, schnaubte die Ganesin. »Lieber reize ich den Selektor zur Weißglut. Wenn er mich in den Ofen wirft, könnte ich vielleicht …«
»Nein!«, zischte Shúria. »Ich brauche dich. Du hast doch bewiesen, dass man hier überleben kann.«
Siath wandte den Blick von dem Priester ab, der den dunkelhäutigen Greis gerade nach links schickte. Wieder ein »Erwählter« für Dagons Feuerofen. Nachdenklich betrachtete sie erst Shúria und danach Ari. Die Härte wich aus ihrem Gesicht und an ihre Stelle trat ein milderer Ausdruck. »Ich hatte selbst einen kleinen Jungen. Sie haben ihn und meinen Mann auf Jâr’en umgebracht.«
Shúria schluckte. »Das tut mir leid. Aber kannst du mich dann nicht verstehen? Stell dir vor, Ari wäre dein Sohn. Was würdest du tun?«
Die eisblauen Augen der Ganesin richteten sich wieder auf die besorgte Mutter. »Dasselbe wie du. Ich würde um ihn kämpfen wie eine Löwin um ihr Junges.«
Ein lautes Schluchzen vom Kopfende der Schlange begleitete die neueste Entscheidung des Selektors. Er hatte die Frau mit dem durchdringenden Organ nach links zur Sammelstelle geschickt. Sie werde mit den anderen, die bereits dort warteten, in ein dunkles Loch gesperrt, hatte Siath die Prozedur erklärt. Wer Glück habe, werde für das tägliche Feueropfer eingeteilt und finde ein schnelles Ende. Wer es weniger gut träfe, müsse im Kerker auf den kommenden Festtag warten, an dem Dagons Schornsteine von morgens bis abends rauchten.
»Siath, wie schön, dich wiederzusehen! Wie war der Urlaub?«, begrüßte der Priester schließlich die Ganesin. Er war ein kleiner, pausbäckiger Mann mit Resten von dunklem Haarbewuchs auf der Beinaheglatze. Sein Lächeln wirkte schmierig.
»Ich wäre gern noch eine Weile geblieben, Pharis«, erwiderte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.
»Eglon wird sich freuen, dass du dich wieder angefunden hast. Er soll von dir geschwärmt haben, an so heißen Tagen wie diesen sei ein Eisblock im Bett ganz angenehm.«
Siaths Kiefer mahlten. Es war ihr anzusehen, wie sie mit sich rang. »Vielleicht findet er ja zur Abwechslung eine andere Gefährtin«, antwortete sie mühsam beherrscht. Dann drehte sie sich demonstrativ zu Shúria um.
Der Priester, den sie Pharis genannt hatte, legte den Kopf zur Seite und betrachtete die Schönheit, die sich mit ihrem Schwarzen Haar und den zeridianischen Gesichtszügen von der Ganesin ebenso unterschied wie die Nacht vom Tag. Er nickte anerkennend. »Interessante Augen.« Beiläufig winkte er Siath nach rechts und machte einen Eintrag in seiner Liste.
»Und wie heißt du, schönes Kind?«, wandte er sich danach an Shúria.
Sie zögerte. Nicht wenige in Peor kannten vermutlich die Ehefrau des berühmten Taramis.
»Was ist? Haben sie dir die Zunge herausgeschnitten?«, fauchte Pharis ungehalten.
»Naría«, stieß sie hervor. Auf die Schnelle war ihr der Name ihrer Muhme als erster eingefallen. Sie deutete auf den Jungen. »Und das ist Ari, mein Sohn.«
Sie konnte deutlich erkennen, wie er mit der Feder nur ihren Tarnnamen in die Liste eintrug. Dabei murmelte er: »Sie geht nach rechts, der Knabe nach links.«
»Nein!«, rief sie.
Überrascht blickte er von dem Pergament auf. »Nein?«
»Eher sterbe ich, als meinen Sohn freiwillig durchs Feuer gehen zu lassen.«
Er gönnte sich ein kleines Lachen. »Liebes Kind, weißt du, was du da von mir verlangst?«
»Ari und ich gehören zusammen«, beharrte Shúria. »Da wo er hingeht, werde auch ich hingehen.« Als sie spürte, wie der Junge an ihrem Gewand zupfte, sah sie ihn streng an und schüttelte den Kopf: Nicht jetzt!
»Na schön«, seufzte der Priester, strich ihren Namen wieder durch und murmelte: »Auf eine Hetäre mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an. Sie kann mit ihrer Brut in den Ofen gehen …« Er wedelte mit der Schreibfeder nach links.
Schreie drangen aus einiger Entfernung herüber. Die zwei Tempelwächter, die Siath abgeführt hatten, klopften hektisch auf ihre schwarzen Röcke, von denen heller Rauch aufstieg.
»Das würde ich nicht tun, Pharis«, rief die Ganesin. Trotz der Fußketten lief sie erstaunlich flink zum Tisch
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