Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
kein Mythos. Wenn die Überlieferungen der Ganesen wirklich stimmen, dann …
»Daran habe ich auch gedacht«, sagte Jarmuth. »Leider existiert die Bibliothek nicht mehr. Sie ist irgendwann nach dem Überfall unserer Krieger verschollen. Es heißt, Gao habe sie von Berith hinweggenommen, um die heiligen Geheimnisse zu schützen.«
»Verdammt!« Bohan hieb mit der Faust auf den Tisch, allerdings nur verhalten, um die Hunde und die anderen Leibwächter des Königs nicht zu irritieren. »Früher hätte man Eli fragen können, aber Og hat die Einwohner von Jâr’en einschließlich des Hohepriesters abschlachten lassen.«
Taramis’ Lippen kräuselten sich. »Möglicherweise kann der Chohén aus dem Haus der Toten zu uns sprechen.«
»Ist Geisterbeschwörung den Dienern Gaos denn nicht verboten?«, fragte der Donnerreiter beklommen.
»Vollkommen richtig. Magische Künste sind die Waffen der Dämonenanbeter. Du weißt so viel von mir, Bohan, und traust mir trotzdem einen solchen Frevel zu?«
Der Komanaer breitete die Hände über dem Tisch aus. »Du bist verzweifelt. Da fürchtete ich, du könntest zum Äußersten …«
»Würdest du mich besser kennen, hättest du nicht einmal daran gedacht«, unterbrach ihn Taramis unwillig. »Mir geht etwas ganz anderes durch den Kopf. Der Hohepriester hatte nach dem glücklichen Ausgang seiner Entführung das heilige Buch Jaschar und die ganze Bibliothek von Jâr’en nach Ijjím Samúj verlegt.«
»Die ›Unsichtbare Insel‹?«, übersetzte Ischáh den alten Namen.
Taramis nickte. »Eli vertraute mir. Er kannte mich von Kindesbeinen an, ich war zu dieser Zeit bereits der neue Hüter von Jâr’en und meine Vermählung mit seiner Tochter Shúria stand kurz bevor. All dies hat ihn dazu bewogen, mir das Versteck der Unsichtbaren Insel zu verraten.«
»Wo …?«, hoben Ischáh, Bohan und Jarmuth wie aus einem Mund an.
»Am Ursprung«, versetzte Taramis. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich an die Worte des Hohepriesters erinnerte: Wie du dich entsinnen wirst, mein Sohn, haben wir Har-Abbirím – den lebendigen Berg der Engel – am unteren Ende des Speeres Jeschuruns gefunden, den man gemeinhin als Große Konjunktion kennt. Am Ursprung dieser Inselkonstellation wird einmal im Monat Ijjím Samúj sichtbar.
»Geht es vielleicht auch etwas genauer?«, brummte Bohan.
»Würde ich Elis Vertrauen nicht sträflich enttäuschen, wenn ich darüber spräche?«
»Nein. Er lebt ja nicht mehr«, bemerkte Jarmuth, pragmatisch, wie er war.
Taramis schüttelte den Kopf. »Manche Versprechen halten über den Tod hinaus. Meine Gefährten werden die Unsichtbare Insel früh genug zu Gesicht bekommen. Ihr, Majestät, müsst Euch damit begnügen, dass ich Euch den Reif der Erkenntnis beschaffe – sofern er tatsächlich existiert.«
Der König grinste. »Soll mir recht sein.«
»Allerdings erbitte ich von Euch einen Aufschub. Ijjím Samúj zeigt sich nur einmal im Monat – und das auch nur ganz kurz. Ich fürchte, die Zeit könnte zu knapp sein, sie bis zum nächsten Erscheinen zu erreichen. Lasst mich bitte zuerst meine Frau und meinen Sohn finden.«
»Gegenvorschlag. Überlasst Leviat einem meiner Vertrauten, der Euch begleiten wird. Ihr beschafft mir den Reif und übergebt ihn meinem Sachwalter im Tausch gegen das Drachenhemd. Während sich der Mann mit dem Erkenntnisreif auf die Heimreise begibt, könnt Ihr Eure Familie und die Welt retten.«
»Ihr misstraut mir?«
»Wo denkt Ihr hin!«, gab sich Jarmuth pikiert. »Natürlich ver traue ich Euch – und zwar ebenso sehr, wie Ihr mir vertraut, was die Position der Unsichtbaren Insel angeht.«
Taramis Kiefer mahlten. Das haarige Schlitzohr war drauf und dran, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Ihm fiel nur noch ein einziges Gegenargument ein, die Schreckensvision aller Machthaber. »Meines Wissens haben die malonäischen Freibeuter einen hübschen Brauch: Jeder kann Anspruch auf die Führerschaft erheben, sofern er den König im Waffengang besiegt. Ich wäre der Letzte, dem der Sinn nach Eurem Thron stünde, aber wie steht es mit dem Sachwalter, dem Ihr den Reif der Erkenntnis anvertrauen wollt? Damit vermag er Eure sämtlichen Hiebe und Finten im Zweikampf vorauszusehen und Euch spielend zu bezwingen. Seid Ihr wirklich sicher, dass es in Eurem Reich auch nur einen Einzigen gibt, dem Ihr Eure Krone bedenkenlos anvertrauen könnt und der sie Euch freiwillig wieder aushändigen wird?«
Der Kirrie
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