Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
Sternenhaus.« Er deutete auf eine Stelle im unteren Drittel der fünften Tafel und las stockend den Text:
So heilte Gao die zerbrochene Welt und umfing ihre Scherben mit einem schützenden Schirm. Jede setzte er auf ihre eigene Bahn. Nur die Schlafende Insel ließ er in Beriths Mitte ruhn, dem dunklen Abgrund Tartaros für den Sohn der Verderbnis. Dem Sternenhaus wies er einen Platz jenseits der Aura zu. Auf der letzten Scherbe des verlorenen Paradieses gab er dem Äonenschläfer einen Ort ungestörter Ruhe, unerreichbar für den Bösen, einen Hort für das ewige Licht, bis Jeschuruns Flamme ihn ruft. Nur wen der Lebensbaum erwählt hat, dem gewährt er Zutritt. Allein sie dürfen reisen von der Spitze des Speeres zur Unsichtbaren Insel, ein Maß, von dort zur Aura, ein zweites Maß, und danach zum Sternenhaus, ein drittes Maß …
»Mit anderen Worten, die Aura liegt genau auf der Mitte zwischen Ijjím Samúj und dem Sternenhaus«, unterbrach ihn Ischáh. »Da, wo du den grünen Lichtpunkt entdeckt hast, Taramis.«
Er nickte. »Fragt sich nur, wie wir dorthin kommen. In Belimáh gibt es weder Luft noch Wärme.«
»Nicht ihr «, verbesserte ihn Liver. »Du allein musst zum Haus der Sterne reisen.« Er zeigte auf die betreffende Stelle in der uralten Schrift. »Da steht, ›wen der Lebensbaum erwählt hat‹.«
»Ja und?« Taramis schwirrte der Kopf. Er wollte Shúria und Ari retten, nicht seine Zeit mit alten Rätseln vergeuden.
Der Bibliothekar deutete mit dem spitzen Kinn auf Ez, der in seiner ledernen Umhüllung am Tisch lehnte. »Das steinerne Buch spricht von dem Feuerstab. Er wurde von einem Boten Gaos aus einem Zweig des Baumes geschnitten und Olam übergeben.«
Taramis erschauderte. Er hatte Elis Überzeugung nie teilen wollen, dass ausgerechnet er, der Sohn Lebesis und nur ein vaterloser Knabe, der verheißene Jeschurun sei. »Seid Ihr sicher, dass wirklich Ez damit gemeint ist? Ich bin nicht einmal von edler Herkunft und kann mir nicht vorstellen …«
»Was berechtigt dich, deine Abstammung infrage zu stellen?«, fuhr ihm Liver über den Mund. »Du kennst deinen Vater doch nicht einmal.«
»Habt Ihr ihn denn gekannt?«
Der Bibliothekar verlagerte seine Aufmerksamkeit auf eine Olive am Baum. »Wenn dein Schwiegervater nicht mit dir darüber gesprochen hat, steht mir das erst recht nicht zu.«
»Lebte Eli noch, hätte er es vielleicht getan«, brummte Taramis. Er war drauf und dran, aus der Bibliothek zu laufen und ohne das Geschenk für Og nach Komana zu reisen.
»Er hat dir das Geheimnis der Unsichtbaren Insel verraten«, erklärte Liver geduldig. »Mich wies er an, dir das steinerne Buch zu zeigen, sofern du kommst. ›Es weist ihm den Weg zum Sternenhaus. Alles Übrige wird sich fügen‹, sagte er zu mir.«
Alles Übrige? Was meint er damit? Taramis stöhnte. »Jetzt bin ich so klug wie zuvor. Unsere Weisen sagen, nichts sei kälter als Belimáh. Gäbe es dort Luft zum Atmen, sie würde auf der Stelle gefrieren. Wie soll ich außerhalb der Aura überleben?«
»In einer Blase.«
»Wie bitte?«
»Junge, ich verstehe ja deine Ungeduld. Trotzdem darfst gerade du dir keine Unbesonnenheit leisten. Wenn du die Worte hier nicht nur überflogen hättest, könntest du deine Frage selbst beantworten.« Livers knöcherner Zeigefinger deutete auf die vorletzte Tafel. »Es verweist auf die Große Konjunktion als ›Speer Jeschuruns‹, weil sie ›Jeschurun wie ein Wurfspieß zum Ziel führe‹. Eli war überzeugt, dass du dieser ›Redliche‹ bist, da dich der Zweig des Lebensbaumes verschont. Im steinernen Buch heißt es wörtlich: ›Gao wird ihm eine Aura geben.‹«
»Gott hat mich mit allerlei Gaben gesegnet, aber nicht mit der Fähigkeit, mir eine eigene Luftblase zu schaffen«, sagte Taramis trotzig.
»Die Prophezeiungen des Allmächtigen treffen immer ein. Möglicherweise hast du sein Geschenk nur noch nicht als solches wahrgenommen.«
»Was soll das für ein Geschenk sein!«
Der Alte kicherte. »Ist dir eigentlich bewusst, dass du leuchtest wie die Glut in einem Ofen? Vielleicht gibt dir das Drachenfeuer Wärme, wenn du den Weltenozean verlässt.«
Ein Prickeln durchfuhr Taramis. Das stimmt! Außerhalb von Narimoths Kiemenkapsel hatte er eine rätselhafte Hitze verspürt und sie der Nähe Ijjím Samújs zugeschrieben.
Ischáh erhob sich von ihrem Polster, ging zu Taramis und beugte sich zu ihm herab. Der Duft von Wildblumen stieg ihm in die Nase. Ihre blonden Haare streiften
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