Die Zeugin: Thriller (German Edition)
»Mr. Oberlin, rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf.«
Der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Cary Oberlin erhob sich von seinemPlatz. Bedächtig und ruhig studierte er seine Notizen. Er erinnerte Rory an einen Zimmermann, der erst einen, dann den nächsten Nagel ansetzt, um sie mit größ ter Sorgfalt in ein Brett zu hämmern. Offenbar wollte er die Angeklagten Punkt für Punkt an die Wand nageln.
»Ich rufe Samuel Koh in den Zeugenstand«, verkündete er.
Heute hatte er einen besonders schweren Hammer mitgebracht. Rory wappnete sich innerlich.
Das Opfer war durch einen einzigen Schuss in die Halswirbelsäule getötet worden. Ein schnelles, furchtbares Ende. Und was das genau hieß, sollten die Leute im Gerichtssaal gleich erfahren.
Bei der Vorvernehmung waren die potenziellen Geschworenen dazu befragt worden. Könnten Sie ungeschminkte Tatortfotos in Augenschein nehmen?
Rory hatte Ja gesagt. Der Anblick von Blut war ihr nicht neu. Dennoch wurde ihr jetzt mulmig.
Sie war nicht die Einzige. In der ersten Reihe der Zuschauerränge regte sich der Vater des Opfers. Und wenn sich Grigor Mirkovic rührte, schien jedes Mal derganze Gerichtssaal zu erbeben.
Mirkovic war umringt von seinem Gefolge. Bodyguards, Anwälte, Assistenten. Seine Miene war angriffslustig und grimmig. Wenn im Saal eine aufgeladene Atmosphäre herrsch te, lag das nicht zuletzt an dem Unbehagen, das seine Anwesenheit auslöste.
Grigor Mirkovic hatte einen gewissen Ruf, der seine Wirkung nicht verfehlte. Er machte sich lustig über Reporter, die sich nach seinen nebulösen Geschäften erkundigten. Oder nach seinen Millionen. Oder nach seinen kriminellen Beziehungen. Solche Anspielungen verdienten nicht einmal Verachtung, ließ er sie wissen.
Hier ging es nur um Brad, erklärte er. Um seinen Sohn Brad, seinen Goldjungen. Obrad Mirkovic, der nie die Ab schlussfeier an der Highschool erleben würde. Brad Mirkovic, der um zwei Uhr morgens auf Jared Smiths Veranda erschossen worden war, während sich Lucy Elmendorfs Finger in sein Haar krallten.
Grigor Mirkovics glasiger Blick wich keine Sekunde von den Angeklagten. Von den dreckigen Bullen, die seinen Sohn auf dem Gewissen hatten.
Doch seine Aufgebrachtheit änderte nichts an bestimmten Fakten. Beginnend damit, dass Brad Mirkovic ums Leben gekommen war, weil er als Mutprobe in Jared Smiths Haus eingebrochen war.
An dem besagten Abend war Brad mit Freunden von Be verly Hills nach Ransom River gefahren, zugedröhnt mit Gras, auf der Suche nach einem Kick. Sie einigten sich darauf, dass ein spontaner Einbruch den höchsten Spaßfaktor versprach. Eine verhängnisvolle Entscheidung.
Nach Angaben der Verteidigung wurde Jared Smith von einem Geräusch aus der Küche geweckt: offenkundig Männer, die durchs Fenster kletterten. Und Jared Smith, der einen makellosen Leumund als Streifenbeamter der Polizei von Ransom River besaß, hatte sich selbst, sein Haus und seinen Gast, Officer Lucy Elmendorf, mit einer legal registrierten Schusswaffe verteidigt. Er hatte Brad Mirkovic gestellt, sich als Polizeibeamter zu erkennen gegeben und ihm erklärt, dass er verhaftet war.
Doch laut Verteidigung widersetzte sich Mirkovic der Festnahme. Daraufhin hatte Jared Smith aus Furcht um sein Leben und um das von Officer Elmendorf einen Schuss abgegeben.
So weit. Allerdings gab es Probleme mit dieser Geschichte. Das erste hieß Samuel Koh.
Jared Smith behauptete, dass Brad Mirkovic mit einem Gegenstand herumgefuchtelt hatte, den er für eine Schuss waffe hielt. In seiner Not und in der Annahme, es mit mehreren Eindringlingen zu tun zu haben, die ihn jederzeit überwältigen konnten, hatte er mit tödlicher Gewaltanwendung reagiert.
Das leuchtete allen ein. Bis sich herausstellte, dass Jared Smiths Nachbar Samuel Koh unter dem Dachvorsprung sei nes Hauses eine Überwachungskamera installiert hatte. Diese erfasste nicht nur Kohs Garten, sondern auch den von Smith. Die Kamera wurde durch einen Bewegungsmelder aktiviert und hatte bis zu jenem Tag nie etwas Bedrohlicheres festgehalten als einen Kojoten, der über Kohs Rasen huschte. Doch dann zeichnete sie auf, wie Obrad Mirkovic zu Tode kam.
Müde trat Koh in einem gepflegten grauen Anzug durch die schwere Holztür des Gerichtssaals. Er ging zum Zeugenstand, um sich vereidigen zu lassen. Mit angestrengter Miene wartete er.
Rory fühlte mit ihm. Er hatte sich gegen zwei Polizeibeamte gestellt, und das war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Die Haltung zu Polizei
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