Die Zeugin: Thriller (German Edition)

der Wind über sein Gesicht, das eine deutliche Frage zum Ausdruck brachte: Verzeihst du mir?
    Noch nicht. Noch nicht ganz. So schnell war sie auch wie der nicht. Natürlich würde sie ihm vergeben, dass er ihr nicht die Wahrheit über seine Arbeit als Bundespolizist gesagt hatte. Irgendwann. Bald sogar. Weil sie wusste, wer er war, und damit hätte rechnen müssen. Schließlich kannte sie ihn schon seit ihrer Kindheit.
    Sie reichte ihm den USB -Stick, den Neil Elmendorf in ihrem Auto deponiert hatte.
    Seth drehte ihn zwischen den Fingern. »Was ist das?«
    »Eine Aufnahme von einer Überwachungskamera. Der Tod von Brad Mirkovic.«
    »Wie …«
    »Lucy Elmendorfs Mann hat mir das gegeben. Keine Ahnung, woher er es hat. Auf jeden Fall hat er es nachbessern lassen. Das Material gibt Anlass zu berechtigten Zweifeln.«
    Seth wirkte ehrlich überrascht. »Kannst du das genauer erklären?«
    »Brad Mirkovic war bewaffnet.«
    Seine Überraschung wurde zu Skepsis.
    »Mit einer wahrscheinlich illegalen Pistole aus dem Besitz von Lucy Elmendorf«, fügte sie hinzu. »Lucy hat sie bei dem Gerangel mit Brad fallen lassen, und plötzlich bekam er sie in die Hand. Ohne Nachbearbeitung am Computer ist das fast nicht zu erkennen, weil Nacht war. Jedenfalls ist die Waffe da. Lucy wollte nicht zugeben, dass sie sie bei sich hatte. Sie dachte, sie hat nichts zu befürchten wegen Notwehr, und hat gelogen.«
    »Warum sollte sie das tun?«
    »Da kann ich wie gesagt nur spekulieren. Vielleicht hat sie die Pistole über Kanäle erworben, die zu Grigor Mirkovic führen.«
    Er schloss die Faust um den Stick. »Du meinst über Boone.«
    Wie sie inzwischen wussten, erstreckte sich Boones Verbindung zu Grigor Mirkovic keineswegs nur auf den Überfall am Gericht. Boone hatte über die Autoverwertung Ransom River nicht bloß Drogen verteilt, sondern auch illegale Waffen. Niemand war je auf die Idee verfallen, dass die zerbeulten Fahrzeuge auf seinem Laster mit Schmuggelware beladen sein könnten.
    Über die Verbindung zu Mirkovic war Boone dann mit dem Waffenschieber zusammengetroffen, den Seth verfolgt hatte. Boone verriet Dobro, dass er Seth kannte und dass dieser mit Boones Cousine befreundet war. Ab da übernahm Dobro die Sache. Er verständigte Mindy Xavier, die ihm bestätigte, dass Seth als verdeckter Ermittler arbeitete.
    Den Rest sprachen sie nicht aus. Boone hatte vor zwei Jahren den schwarzen Geländewagen besorgt, der ohne Licht und Kennzeichen ein anderes Auto in Seths Pick-up gerammt und Rory schwer verletzt hatte.
    Diesen Teil des Rätsels hatten sie gelöst, ohne sich lange damit aufzuhalten. Boone war tot, und bei einem Toten waren Rachegedanken überflüssig.
    Rory fuhr fort: »Lucy Elmendorf kann jetzt darüber nachdenken, ob es so schlau war, die Waffe zu kaufen, wenn sie Blumen auf Jared Smiths Grab legt.«
    Eine Bö fegte über den Parkplatz. Seth nickte und blickte zur Straße. Er hatte die Polizei alarmiert, um Elmendorf und Smith zu schützen, doch sie kamen zu spät. Mirkovic war schneller bei Smith gewesen als die Beamten.
    Seth steckte den USB -Stick in die Hemdtasche. Sand wehte über die Straße und zwang sie, die Hand vor die Augen zu legen. Um nicht weiter über Verrat sprechen zu müssen, verloren beide kein Wort über ihre Familien.
    Lucky Colder konnte sich nicht mehr an die Zeit kurz vor dem Überfall auf den Geldtransporter erinnern. Doch es war klar, dass er bei einem Saufgelage vertrauliche Informationen an Xavier weitergegeben hatte. Und sie hatte ihn manipuliert, sowohl vor dem Raub als auch vor der Attacke auf das Gericht. Zwei Jahrzehnte hatte er mit der Angst gelebt, dass er es mit seinem Ausrutscher im Alkoholrausch den Gangstern ermöglicht hatte, den Geldtransporter zu überfallen. Um es wiedergutzumachen, befasste er sich weiterhin mit der Fallakte. Dabei erzählte er Xavier, dass auf dem Fluchtfahrzeug ein unbekannter Handabdruck war. Xavier ließ den Abdruck durch die Computerdatei laufen und entdeckte, dass er von Rory stammte. Danach nahm sie Kontakt zu Boone und Riss auf.
    Lucky war völlig zerknirscht und bemüht, seine Ehre wiederherzustellen. Hoffentlich fand Seth einen Weg, ihm dabei zu helfen.
    »Bist du sicher, dass du keine neue Identität für dich und Addie willst?«, fragte Seth. »Das ist deine letzte Chance.«
    »Ich bin mir in gar nichts sicher. Bloß darin, dass ich lernen muss, wie ich ein Kind ernähre. Trotzdem, nein danke.«
    Schweigen legte sich zwischen sie. Auf dem Highway