Die Zufalle des Herzens
spöttisches Schnauben von sich. »In der Middle School kriegt jeder alles mit, Mom.«
»Tja, dann ist sie vielleicht keine sehr gute Freundin, und du bist ohne sie besser dran.«
Ein leises Zischen der Resignation drang von dem Kissen herüber. »Du kapierst es nicht.«
»Dann erklär es mir.«
»Jeder ist so. Jeder ignoriert irgend jemanden. Aber wenn ich ohne Darby besser dran bin, dann bin ich überhaupt ohne Freunde besser dran.« Und da war es. Das Einsamkeitsdilemma. Über manche Dinge konnte man hinwegsehen, und manche konnte man verzeihen. Und dann gab es Dinge, die musste man verzeihen, egal wie schlimm sie waren, denn sonst blieb einem nur die Isolationshaft. Hart genug mit fünfundvierzig. Unmöglich mit zwölf.
»Es ist wie Knallfolie«, sagte Morgan. »Jede von uns ist wie ein Stück Knallfolie. Und jeden Tag werden ein paar Blasen zum Platzen gebracht. Wenn du Glück hast, sind es nur ein oder zwei. Wenn’s schlecht läuft und alle dich ignorieren und hinter deinem Rücken über dich reden, sind es vielleicht hundert. Und was hast du am Ende?«
»Was?«
»Nur ein Stück nutzloses Plastik. Kann man genauso gut wegwerfen.«
Dana lag im abgedunkelten Schlafzimmer und streckte die Hand aus, um Morgans feines, seidiges Haar zu streicheln. Und ihr fiel kein Gegenbeweis zu dem Argument des Mädchens ein, weil es keinen gab. Sie hatte recht. Und die Einsätze waren höher als in früheren Jahren, der Druck stärker denn je, dieses perfekte, aber zugleich ungezwungene Mädchen zu sein. Fehlerlos. Die Kritik der anderen türmte sich inzwischen zu einem hohen Berg – wie konnte irgendjemand es schaffen, ihn zu überwinden?
»Ich liebe dich, Morgan«, war alles, was Dana einfiel. »Daddy und ich lieben dich so sehr.«
»Ich weiß«, seufzte Morgan, zusammengerollt im tröstlichen Dunkel des Bettes ihrer Mutter. »Danke.«
Als Dana am nächsten Morgen aufwachte, war Morgan weg. Für einen Moment in Panik stellte Dana sich vor, dass sie sich davongestohlen und sich etwas angetan hatte. Sie wusste, dass das nicht stimmte, schälte sich jedoch rasch unter der Decke hervor und stand trotzdem auf. Es war besser zu stehen, wenn einem solche Gedanken kamen. Im Liegen war man ihrer pilzartigen Ausbreitung zu sehr ausgeliefert.
Schnell tappte sie hinunter in den Flur und spähte durch die halb geöffnete Badezimmertür. Da stand Morgan, bereits angezogen. Sie betrachtete sich im Spiegel, einen Finger in die kleine Bodenwelle von einem Bäuchlein gedrückt, das vor ungefähr sechs Monaten zu sprießen begonnen hatte. Dana hatte die kleine Wulst auch bemerkt und angefangen, Morgan nach der Schule anstelle des üblichen Toasts mit Butter und Honig Apfelschnitze und Möhren mit einem fettarmen Dipp anzubieten. Morgan sprach das Thema von sich aus nicht an und knabberte reuevoll an dem Hasenfutter.
Dana sah zu, wie Morgan jetzt ihren Finger in die kleine Fettschicht bohrte, so als gehörte sie gar nicht zu ihr, als wäre sie eine außerirdische Lebensform oder ein blass getönter Blutegel, der etwas aus ihr heraussaugte. Genau so bohrte Dana selbst sich in die Oberschenkel, wenn sie auf dem Badewannenrand saß, um Grady ein Bad einzulassen, und ihr Blick auf ihre über dem kalten weißen Porzellan gespreizten Beine fiel.
Wieder stieß Morgan sich mit dem Finger in den Bauch, und ein Ausdruck der Hoffnungslosigkeit huschte über ihr Gesicht.
Knallfolie , dachte Dana. Die genau vor ihren Augen platzte.
- 6 -
H abe ich Coach Ro dich Stelly rufen hören?«, fragte Dana Grady an diesem Nachmittag.
»Ja«, antwortete er, auf einer getrockneten Aprikose kauend. Das war die einzige Möglichkeit, ihn zum Obstessen zu bringen.
»Gefällt dir das? Ich habe noch nie jemanden dich so nennen hören.«
»Irgendwie ja und irgendwie nein.« Grady pulte sich ein Stück Aprikose aus den Zähnen. »Es macht Spaß, einen Spitznamen zu haben … aber Stelly klingt wie Stella. Eher wie ein Mädchenname.«
»Wenn du nicht willst, dass er dich so nennt, kannst du ihn höflich bitten, deinen richtigen Namen zu benutzen.«
Grady zuckte die Schultern. »So viel macht mir das auch nicht aus. Jedenfalls nicht genug, dass ich mich deswegen wie ein Baby verhalten würde.«
»Ich finde es nicht babyhaft, bei seinem richtigen Namen gerufen zu werden, Grady.« Für ihn war das Thema jedoch erledigt, und er ging nach oben in sein Zimmer, um an seinem neuesten Legogebilde weiterzuarbeiten.
An diesem Abend ging Dana nach dem
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