Die Zuflucht
Freak einen solchen Laut von sich geben hören. Bisher kannte ich nur ihre Schreie, ihr Klagen und Knurren.
Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich schlafen sie .
Ich hatte recht gehabt: Wie Tiere lagen sie in Haufen übereinander und schlummerten, und wie Tiere hatten sie schreckliche Klauen und Zähne, mit denen sie jede Beute zerreißen konnten. Bei dem Anblick versagten mir die Nerven. Ich blieb stehen und dachte darüber nach umzukehren. Bleich konnte nicht überlebt haben, nicht wenn sie ihn hierhergebracht hatten. Bestenfalls würde ich die Überreste seiner Leiche finden, um dann selbst einen sinnlosen Tod zu sterben.
Besser eine tote Jägerin , flüsterte Seide, als ein Feigling .
Ich straffte die Schultern und schlich mit kleinen Schritten lautlos weiter. Als ich an einem Haufen schlafender Freaks vorbeikam, standen mir alle Haare zu Berge. Sie könnten jeden Moment aufwachen, die anderen aus dem Schlaf reißen und sich in blindem Hass auf mich stürzen.
Ich hätte nicht den Hauch einer Chance .
Aber all das spielte keine Rolle. Ich hatte einen Plan gefasst. Wenn ich hier starb, dann nicht umsonst, sondern für Bleich.
Ich schluckte und atmete leise durch den Mund.
Er kann es nicht einmal ertragen, wenn Pirscher dich berührt. Und jetzt sieh, was du ihm angetan hast , schoss es mir in den Kopf, aber ich schüttelte den Gedanken ab. Wen ich küsste und weshalb, war im Moment das geringste meiner Probleme. Ich durfte mich von nichts ablenken lassen, wenn ich das hier überleben wollte. Mit meinen Gefühlen konnte ich mich beschäftigen, wenn ich Bleich gerettet hatte.
Finde ihn, Jägerin .
Da hörte ich ein weiteres Geräusch und schöpfte neue Hoffnung. Irgendwo in dem Lager weinte jemand, ein Mensch. Ich glaubte nicht, dass es Bleich war, andererseits konnte ich nur schwer einschätzen, wie er in so einer Situation reagieren würde. Vielleicht würde ich an seiner Stelle auch weinen. Dankbar folgte ich dem Wimmern, und während ich mich an den schlafenden Monstern vorbeischlich, fragte ich mich, ob es ihnen in unserem Lager ähnlich ergangen war, ob sie unsere Gewehre fürchteten, ob sie genauso Angst hatten, entdeckt zu werden.
Haben Freaks Angst vor dem Tod?
Diese Frage hätte ich mir besser früher stellen sollen. Mein Herz pochte mit jedem Schritt wilder, aber irgendwann hatte ich die Mitte der gigantischen Kolonie erreicht. Ich duckte mich und starrte ungläubig in die Richtung, aus der das Jammern kam. Nur Bälger weinten so haltlos, so wie der blinde Junge aus Nassau, als die anderen Jäger ihn in der Enklave davonschleppten. Dann sah ich es. Sie hielten sie in einem Pferch.
In Erlösung gab es Ställe für die Tiere, wir tranken ihre Milch, aßen ihre Eier und manchmal auch ihr Fleisch. Hier hatten die Freaks einen Zaun aus angespitzten Holzpfählen errichtet– ganz ähnlich denen, auf die sie die Köpfe gespießt hatten–, und dahinter sah ich Menschen, die an Leinen gefesselt waren wie Hunde. Nacktes Entsetzen packte mich.
Sie wollen uns zähmen .
Das musste eine neue Entwicklung sein. Hätte Draufgänger auf seinen Handelsreisen davon Wind bekommen, hätte er umgehend Stadtvorsteher Bigwater informiert. Überall in der Stadt hätten sie von nichts anderem mehr gesprochen. Aber das war nicht der Fall. Eine seltsame Gnade, es als Erste zu erfahren.
Trotzdem durfte ich mich nicht lähmen lassen von meiner Angst, denn ich hatte eine Aufgabe zu erledigen. Falls Bleich hier war und noch am Leben, dann in diesem Pferch, also schlich ich weiter und kletterte über den Zaun.
Die meisten der Gefangenen sahen aus, als wären sie halb wahnsinnig vor Angst. Nur eine Frau weinte unaufhörlich, und es schien, als wären die Freaks an das Geräusch gewöhnt. Gut so, denn der Lärm, den sie machte, übertönte meine Schritte. Ich ging zwischen ihnen umher, schaute in jedes Gesicht, und mit jedem, das ich nicht kannte, verblasste meine Hoffnung ein Stück mehr.
Ich rüttelte sie wach, und sie zuckten wegen meines Geruchs zurück. In der Dunkelheit mochten sie mich für einen Freak halten, der mitten in der Nacht Hunger bekommen hatte. Ich nahm ihre kraftlosen Schläge und das panische Gezappel hin und schnitt sie los. Mehr konnte ich nicht tun. Ob sie blieben oder flohen, war ihre Entscheidung.
» Seid still«, war das Einzige, was ich ihnen zuflüsterte, und manche krochen sofort davon. Andere starrten mich nur an wie eine Erscheinung.
So verzweifelt ich auch suchte, ich entdeckte keine Spur
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