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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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Frank und Bleich retten– wir mussten die anderen warnen.
    » Es ist deine Entscheidung«, flüsterte Pirscher.
    Ich überlegte, Sekunden fühlten sich an wie Stunden, und die vielen unvorhersehbaren Möglichkeiten erdrückten mich. Egal. Ich war geboren, um das Unmögliche zu schaffen.
    » Du bleibst hier«, sagte ich schließlich. » Mit deinem verletzten Knie kannst du nicht rennen, wenn es Probleme gibt… Falls ich nicht zurückkomme, musst du dich allein zum Vorposten durchschlagen und Draufgänger berichten, was wir hier entdeckt haben.«
    Er ballte die Hände zu Fäusten. » Bitte mich nicht, dich im Stich zu lassen, Taube. Du kannst alles von mir verlangen, aber nicht das.«
    Vielleicht war dies das letzte Mal, dass wir einander sahen. Ich berührte sein Gesicht, fuhr über die roten Narben, und Pirscher ließ es zu, wie er es immer tat, obwohl er der Meinung war, es sehe aus wie ein Zeichen von Schwäche.
    » Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich Bleich gefunden habe. Warte bis kurz vor Einbruch der Dämmerung auf mich. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, geh allein. Falls es schon vorher zu gefährlich wird, dann flieh. Pass auf dich auf und vor allem, warne Draufgänger, was sich hier zusammenbraut. Es könnte die letzte Gelegenheit sein.«
    Ich hatte ihn noch nie so verzweifelt gesehen. Die Narben in seinem Gesicht spannten sich wie Bogensehnen. » Wenn du willst, dass ich dich allein gehen lasse, wirst du mich zum Abschied küssen müssen.«
    » In Ordnung.«
    Einmal hatte er mich einfach gepackt und geküsst. Dies war das erste Mal, dass es auch von meiner Seite aus freiwillig geschah, und es fühlte sich vollkommen anders an– vielleicht gerade deshalb, weil es meine eigene Entscheidung war. Seine Lippen waren warm und weich, und die Berührung hallte lange in mir nach.
    Verwirrt machte ich mich los, und Pirscher blickte mich an. Er lächelte nicht. Seine Augen sagten mir, dass ich diesen Vorstoß mitten hinein in die Freak-Siedlung nicht überleben würde. Ich wusste, meine Chancen standen nicht gerade gut. Mich einfach so in das Dorf zu schleichen war reiner Selbstmord, und ich hatte nicht vor, mein Leben jetzt schon zu beenden. Flüsternd erklärte ich Pirscher, was ich vorhatte, und schließlich nickte er. » So könnte es gehen.«
    Ich musste nur noch die nötigen Vorbereitungen treffen.
    Es war eine mondlose Nacht, aber ich fürchtete die Dunkelheit nicht. Es war diese Freak-Siedlung, die mir Angst machte. Ich kämpfte sie nieder und ließ meine Sachen bei Pirscher. Er hatte sich im hohen Gras in der Nähe des Sees versteckt, weit genug entfernt, damit die Freaks ihn nicht entdeckten. Falls ich es vor Sonnenaufgang nicht zurückschaffte, würde ich meinen Beutel ohnehin nicht mehr brauchen, und das zusätzliche Gewicht störte nur, wenn ich mich hinter die feindlichen Linien schlich. Wenn ich es schaffen wollte, musste ich mich bewegen wie ein Geist.
    Ich kann nicht glauben, dass ich das hier tatsächlich tue.
    Zuvor war ich noch einmal in den Wald zurückgekehrt, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Was ich vorhatte, war entsetzlich, aber ich hatte keine andere Wahl. Freaks jagten, indem sie die Witterung ihrer Beute aufnahmen, und das durfte nicht passieren. Also schloss ich die Augen, nahm die Eingeweide, die ich aus dem Kadaver eines Freaks herausgeschnitten hatte, und rieb mich am ganzen Körper damit ab. Als ich fertig war, beschmierte ich mich noch mit ihrem stinkenden Blut.
    Pirscher beobachtete mich ausdruckslos. » Ich will dich immer noch«, sagte er.
    » In dem Zustand?« Ich lachte und tat so, als hätte er einen Scherz gemacht. Das war immer noch besser, als seinen Stolz noch weiter zu verletzen. » Gute Jagd«, fügte ich hinzu. Es war das größte Kompliment, das ich ihm machen konnte, weil ich ihn damit als Gleichgestellten anerkannte, und Pirscher schien das zu merken. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, schnell und flüchtig wie ein Funken im Sturm.
    Ohne ein weiteres Wort schlich ich mich durchs hohe Gras davon. Ich bewegte mich langsam, falls sie Wachen aufgestellt hatten oder ein paar von ihnen nachts umherstreiften. Der Gestank, der von der Siedlung herüberwehte, war entsetzlich, aber ich musste es riskieren. Als ich schon beinahe dort war, hörte ich leise Geräusche. Es klang wie ein Gurgeln, kehlig und feucht, aber nicht wegen einer Lungenverletzung, sondern als würden sie schnarchen, ruhig und selbstzufrieden. Noch nie hatte ich einen

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