Die Zuflucht
draußen passiert?«
» Das kann ich dir sagen«, erwiderte Bleich tonlos. » Aber erst, wenn wir allein sind.«
So allein man in diesem Lager sein konnte. Hier gab es keine Mauern, hinter die man sich zurückziehen konnte– außer denen um das eigene Herz.
» Wo sind die anderen?«, fragte Draufgänger.
» Ellis haben die Freaks erwischt«, antwortete ich. » Und Miles habe ich in Notwehr getötet.«
Er seufzte. » Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich überrascht bin. Aber er war schon immer ein Halunke. Hast du etwas dagegen, wenn ich seiner Familie sage, er wäre im Kampf gefallen? Die Leute könnten es dir übel nehmen, wenn sie die Wahrheit erfahren.«
» Schon in Ordnung.« Ich warf Bleich einen kurzen Blick zu und fragte mich, was mit Frank passiert war. In der Kolonie hatte ich keine Spur von ihm entdecken können. » Aber… ich habe noch mehr schlechte Neuigkeiten.«
Draufgänger strich sich über den Bart. » Wann war das jemals anders, Mädchen? Gehen wir nach drinnen, ihr erzählt mir, was ihr zu sagen habt, und dann kümmern wir uns um Bleichs Verletzungen.«
Es war das erste Mal, dass Draufgänger mich in sein Zelt bat. Bis auf einen kleinen Stuhl und ein paar zusätzliche Decken sah es genauso aus wie alle anderen. Ich missgönnte ihm das bisschen Sonderausstattung nicht. Immerhin war er schon alt. Bleich ließ sich auf den Boden sinken. Seine Augen waren leer wie die eines Geistes.
Ich setzte mich neben ihn und überließ Draufgänger den Stuhl. Wahrscheinlich brauchte er ihn, damit er leichter wieder aufstehen konnte.
» Was ist passiert, Junge?«
» Sie haben uns entführt. Frank und mich. Ich glaube, zum Teil, um zu beweisen, dass sie es können. Um euch Angst zu machen.«
Er vermied jeden Blickkontakt, vor allem mit mir. Vielleicht weil ich den Pferch gesehen hatte, in dem sie ihn gehalten hatten wie ein Tier.
» Aber das war nicht der einzige Grund«, fügte Bleich hinzu.
» Nur zu«, ermunterte ihn Draufgänger.
» Sie drangen durch die Rückwand des Zeltes ein und haben uns gepackt. Im Wald kam ich wieder zu mir. Sie hatten uns im Schlaf bewusstlos geschlagen, mein Schädel dröhnte höllisch, und es war immer noch dunkel. Sie hatten mich an Händen und Füßen gefesselt wie ein Stück Vieh, das zum Schlachter gebracht wird.«
Ich konnte nicht ertragen, wie gleichgültig er die Ereignisse schilderte, und griff nach seiner Hand, aber er zog sie zurück und verschränkte die Finger in seinem Schoß. Sie zitterten nicht einmal. Bleich wirkte, als würde er übers Wetter reden.
» Sie trugen uns, ich weiß nicht wie lange. Irgendwann konnten wir uns befreien. Wir kämpften, aber mir war immer noch schwindlig, und Frank war wie gelähmt vor Angst. Sie töteten ihn, und ich sah, wie sie ihn mit ihren Klauen in Stücke schnitten. Nachdem sie die Knochen entfernt hatten, packten sie das Fleisch in einen Sack.«
Draufgänger schnappte nach Luft, und sein wettergegerbtes Gesicht wurde aschfahl. Galle stieg mir in der Kehle hoch. Kein Wunder, dass Bleich so zugemacht hatte. Er durfte diese Erinnerungen nicht an sich heranlassen.
Oh, Bleich .
Unbeirrt erzählte er weiter. » Sie fesselten mich wieder, fester diesmal, und marschierten weiter. Offensichtlich hatten sie etwas mit mir vor.«
An dieser Stelle unterbrach ich. Ich musste einfach. Der Schmerz, den die Bilder in mir wachriefen, die ich mit eigenen Augen gesehen hatte, wühlte in meinen Eingeweiden wie ein Schlachterhaken. » Sie haben ihn in die Kolonie gebracht.«
Draufgänger zog die Augenbrauen hoch, und ich beschrieb ihm in kurzen Worten meine Entdeckung, die unglaubliche Anzahl von Freaks und die Pferche. Sie hatten einen weiteren Entwicklungsschritt gemacht, wurden uns Menschen immer ähnlicher. In ihren Augen machten sie es mit uns nicht anders als wir mit den Tieren, dessen war ich sicher.
» Langschweinhaltung«, murmelte Draufgänger, und ich runzelte verwirrt die Stirn, aber er schüttelte nur den Kopf. » Und du hast nicht vielleicht mehr Freaks gesehen, als es tatsächlich waren, weil es so dunkel war und du Angst hattest?«
Er fragte immer noch einmal nach, wenn ich ihm etwas berichtete, aber diesmal war es auch Verzweiflung, die aus seinen Worten sprach. Es war nicht so, dass er mir nicht vertraute. Er wollte einfach nicht glauben, dass sich unsere Lage so weit verschlimmert hatte. Wenigstens hörte er mich an und drohte mir nicht mit irgendwelchen Strafen, falls ich nicht den Mund hielt.
» Deine
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