Die Zuflucht
Mir gaben sie eine Sichel, mit der ich das Getreide schneiden sollte. Ich wog sie in der Hand und überlegte, ob sie wohl als Waffe zu gebrauchen war.
Hoffentlich kommt es erst gar nicht so weit .
Ich sah Tegan, die auf dem Feld arbeitete, so schnell sie konnte. Sie sah so schön und rein aus mit ihrem gelben Kleid und dem dunklen Haar, das in der Sonne schimmerte. Ich erkannte sie kaum wieder. Keine Spur mehr von dem dünnen, verängstigten Mädchen, das sie in den Ruinen gewesen war. Sie war das blühende Leben selbst. Mit traurigem Blick ging ich zu ihr, und sie wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, aber der Vorarbeiter rief uns zu, wir sollten das Quasseln bleiben lassen, und wir machten uns an die Arbeit.
Wir schufteten, und Tegan sprach nicht ein einziges Wort. Sie wusste, wie wichtig unsere Aufgabe war. Wenn wir versagten, würde die ganze Stadt hungern. Immer wieder schaute ich zum Horizont in der Befürchtung, dort die heranstürmenden Freak-Horden zu sehen. Ich aß nichts, trank nur ab und zu einen Schluck Wasser und schnitt und schnitt und schnitt, während jemand hinter mir die gefallenen Ähren aufsammelte und auf einen Wagen lud. Auf den anderen Feldern gruben sie Kartoffeln aus, ernteten Mais und was sie sonst noch angepflanzt hatten. Ich kannte nicht einmal alle Namen, sondern spürte nur umso mehr, wie sehr die Zeit drängte.
» Mach langsamer«, sagte Tegan. » So hältst du nicht lange durch.«
Ich schüttelte nur den Kopf und sah die Sekunden dahinjagen wie die Zeiger auf Bleichs Uhr. Er hatte sie mir geliehen, wenn ich Unten Wache hielt, während er schlief, und ich hatte ihr Ticken auf meiner Haut gefühlt. Jetzt spürte ich es wieder.
» Ich freu mich schon drauf, heute Abend endlich meine Frau in die Arme zu schließen«, sagte eine der Wachen.
» Ist lange her«, stimmte ein anderer zu, aber es klang, als würden sie selbst nicht daran glauben.
Ich arbeitete noch schneller, wie im Fieber. Wir würden es nie und nimmer an einem einzigen Tag schaffen, egal wie sehr ich es mir auch wünschte.
Als es dunkel wurde, kehrten die voll beladenen Wagen mit den Pflanzern nach Erlösung zurück. Ich war nicht für die Eskorte eingeteilt worden und lief ruhelos im Lager auf und ab. Nach einer Weile kam Draufgänger zu mir und lud mich an sein Feuer ein. Er machte das manchmal, um Leuten, die sich besonders hervorgetan hatten, seine Wertschätzung zu erweisen. Aber ich bezweifelte, dass das auch bei mir der Fall war.
» Du verausgabst dich«, sagte er, » und du machst die anderen nervös. Möchtest du lieber zu deinen Freunden nach Erlösung?«
» Würdest du das denen hier auch anbieten?«, fragte ich scharf und deutete mit dem Kinn auf die Wachen, die um eine zweite Feuerstelle saßen.
» Nein«, gestand er geradeheraus. » Aber du bist auch noch kein erwachsener Mann, sosehr du es dir auch zu wünschen scheinst.«
Ich starrte ihn entgeistert an. » Ich will kein Mann sein.«
» Bist du sicher?«
» Absolut. Ich weiß, dass die Leute in Erlösung mich für seltsam halten, aber ich bin eine gute Jägerin.«
» Ich habe nie das Gegenteil behauptet.« Ohne zu fragen, reichte er mir einen Teller mit Bohnen und gebratenem Fleisch. Dem Geschmack nach war es Reh, wahrscheinlich von der letzten Jagd.
Eigentlich war ich zu angespannt, um etwas zu essen, aber ich schaufelte es trotzdem in mich hinein. Mein Körper brauchte Kraft, und dafür brauchte er Nahrung. Meine Kameraden würden den Preis bezahlen, wenn ich zu schwach wurde. Unter den gegebenen Umständen mussten wir alles in die Waagschale werfen, was wir hatten.
» Wie lange wird es noch dauern?«, fragte ich.
» Zwei Tage, dann müssten wir fertig sein. Den Rest der Ernte müssen wir auf den Feldern verfaulen lassen. Die Pflanzen sind noch nicht so weit.«
» Wird es für den Winter reichen?«
Draufgänger zuckte die Achseln. » Wir werden den Gürtel etwas enger schnallen müssen, aber ich schätze, es wird auch niemand Hunger leiden. Manche von uns könnten ohnehin ein paar Kilo weniger vertragen.«
» Du bist immer so freundlich zu mir. Und das, soweit ich es beurteilen kann, ohne dass ich es verdient hätte. Warum?«
Er schwieg eine ganze Weile und blickte hinaus in die Dunkelheit. Dann lächelte er mich unvermittelt an. » Ich habe dich hierhergebracht. Du bist wie ein Familienmitglied.«
Ausgerechnet ich. Unten hatte es keine Familien gegeben, nur eine große Gemeinschaft. Hier hatte ich meine Pflegeeltern und
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