Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
Vom Netzwerk:
hätte ich früher zumindest gedacht, weil ich es Unten so gelernt hatte. Aber vielleicht war auch das Unsinn wie so vieles, was sie mir in der Enklave beigebracht hatten. Vielleicht machte eine Narbe eine Frau einfach nur hässlicher.
    Ich drehte meine Decke auf die halbwegs saubere Seite und legte mich hin, konnte aber nicht schlafen. Zu viele unbeantwortete Fragen gingen mir durch den Kopf, und ich vermisste Bleich so sehr, dass ich am liebsten geschrien hätte. Stumme Tränen stiegen mir in die Augen und rollten über meine Wangen. Dabei hätte doch alles gut sein sollen, denn ich hatte ihn wieder.
    Als es dunkel wurde, schlüpfte Pirscher in mein Zelt. Ich hatte nicht die Kraft, ihn anzubrüllen. Außerdem gab es hier keine Anstandsregeln, die einen Besuch verboten. Oft genug war er in Erlösung an meinem Fenster gewesen, und die Zeit, in der ich Angst haben musste, er könnte etwas tun, das ich nicht wollte, war längst vorüber.
    » Ist hier ein Platz für mich frei?«
    Ich nickte und rutschte ein Stück zur Seite. » Wie geht es deinem Bein?«
    » Es tut weh. Aber wenn ich es eine Zeit lang schone, wird es bald verheilt sein.« Hoffte er zumindest. » Ich habe dir gesagt, ich würde ihn für dich finden.«
    » Danke. Ohne dich hätte ich es nie geschafft.«
    Das war keine Übertreibung. Ich hatte nicht seine Erfahrung. Pirscher hatte vorgeschlagen, entlang des Seeufers nach Spuren zu suchen. Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen. Ich war Jägerin, keine Spurenleserin.
    » Es war das Schlimmste, was ich jemals tun musste.« Seine eisblauen Augen schimmerten wie Mondlicht auf einer Wasserfläche.
    » Das Spurenlesen?«
    » Nein. Dich ohne mich in die Freak-Kolonie gehen zu lassen…«
    Ich hätte ihn bitten sollen zu gehen. Er hatte nach mir gesehen, und wir hatten kurz miteinander gesprochen, aber wir sollten nicht hier zusammensitzen, während Bleich allein und gebrochen in seinem Zelt lag. Doch auch ich hatte Wunden davongetragen, und als Pirscher mir einen Arm um die Schulter legte, wehrte ich mich nicht.

ERNTE
    Am folgenden Tag schickte Draufgänger Bleich und Pirscher zurück nach Erlösung.
    Bleich schaute mich nicht an, und er bewegte sich, als hätte er Bleikugeln an den Füßen. Seine Kälte traf mich wie ein Messer zwischen den Rippen. Er hatte so viel gelitten; vielleicht konnte er meine Berührung wieder ertragen, wenn seine Wunden verheilt waren, und alles würde wieder in Ordnung kommen. Aber ich glaubte selbst nicht daran. Es gab Wunden, die niemals verheilten, die immer weiterbluteten, bis man den Verstand verlor oder an ihnen starb.
    Pirscher blieb stehen. » Bis bald«, flüsterte er mir ins Ohr und beugte sich herab, aber ich drehte das Gesicht weg, sodass seine Lippen nur meine Wange streiften.
    Der Stich, den ihm meine Zurückweisung versetzte, flackerte nur kurz in seinem Gesicht auf. Er nickte knapp, um mir zu zeigen, dass er verstanden hatte: Nichts hatte sich zwischen uns verändert, trotz allem, was er für mich getan hatte. Es war furchtbar. Nichts würde wieder in Ordnung kommen. Beide waren todunglücklich, und ich wollte nicht, dass sie gingen, obwohl es das einzig Richtige war. Sie waren zu schwer verletzt, um zu kämpfen, und es war besser, wenn sie sich in Sicherheit brachten, bevor es zu spät war. Doch ohne sie fühlte ich mich noch einsamer.
    Die Anspannung unter den anderen Wachen wurde immer größer. Sie hatten Gerüchte darüber gehört, warum die Ernte in aller Eile eingebracht werden sollte. Allein oder in Zweiergruppen kamen sie zu mir und versuchten, mir etwas zu entlocken. Halb krank vor Sorge und mit den Gedanken mit wichtigeren Dingen beschäftigt, fiel es mir nicht schwer, sie loszuwerden. Ich spielte einfach mit meinem Messer, ließ es auf meiner Handfläche wirbeln wie einen Kreisel. Es war ein einfacher Trick, den ich schon als Balg gelernt hatte, aber erstaunlich effektiv. Für erwachsene Männer ließen sie sich verdammt leicht von einem Mädchen einschüchtern. Vielleicht war es aber auch mein finsterer Blick, der sie gleich wieder das Weite suchen ließ.
    Ich konnte sie verstehen. Auch ich wünschte mich an einen anderen Ort.
    Eine Eskorte kam aus der Stadt und brachte die Pflanzer und ihre Wagen zu den Feldern. Die Wagen waren leer, damit sie die Ernte nach Erlösung transportieren konnten. Wir brauchten jede verfügbare Arbeitskraft, um es so schnell wie möglich hinter uns zu bringen. Diesmal konnten wir nicht nur danebenstehen und Wache halten.

Weitere Kostenlose Bücher