Die Zuflucht
Unten zur Welt gebracht hatte, auch nur einen Gedanken an meine Sicherheit verschwendet hätte. Die Gesetze der Enklave verboten jede emotionale Bindung zwischen Zeugern und ihren Nachkommen. Bleich hatte beide Eltern verloren, und zum ersten Mal glaubte ich, seinen Verlust ansatzweise nachvollziehen zu können.
Ich fuhr herum und rannte zurück zum Tor, wo Bleich immer noch allein herumstand. » Komm mit. Du kannst bei uns essen.«
Er blickte an seinen dreckigen, blutverschmierten Kleidern herab und schüttelte den Kopf. » Ich kann nicht.«
» Wasch dich, zieh dich um, und dann komm. Bitte.«
Es war das letzte Wort, das ihn überzeugte. Ich sah es in seinem Gesicht, denn eigentlich wollte er es auch. Er fürchtete sich nur aus irgendeinem Grund davor.
Pirscher beobachtete uns mürrisch, aber ich konnte nicht rückgängig machen, wie ich mich ihm gegenüber verhalten hatte. Ich konnte es nur in Zukunft anders machen. Und ich wollte Bleich. Ich würde mich immer für ihn entscheiden.
» In Ordnung«, sagte Bleich schlieÃlich. » Mr. Jensen wird nichts dagegen haben.«
Ich hörte noch etwas anderes aus seinen Worten heraus: Der Mann, der ihn aufgenommen hatte, interessierte sich nicht für ihn. Er wollte Bleich nur als billige Arbeitskraft. Ich hatte Glück gehabt, und vielleicht konnte ich dieses Glück, um das ich nicht einmal gebeten hatte, mit ihm teilen. Mit Bleich, der so sehr vermisste, was er verloren hatte.
Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Es war mir egal, wenn die Leute es sahen. Sollten sie denken, was sie wollten.
Bleich berührte sein Gesicht mit dem gleichen verwunderten Ausdruck, den ich zuvor bei Oma Oaks gesehen hatte, und mir wurde klar, wie sehr ich meinen Messern ähnelte: Ich war hart und kalt, ein Werkzeug, um andere auf Distanz zu halten.
Ich lief zurück zu meinen Pflegeeltern, und wir machten uns auf den Weg zu dem Haus, das so unerwartet zu meinem neuen Zuhause geworden war. Ich hatte dort ein gemütliches Zimmer und ein unvorstellbar groÃes Bett, und die überraschende BegrüÃung am Tor festigte meinen Entschluss, Erlösung besser zu verteidigen, als ich es bei College vermocht hatte. Wenn ich es nüchtern betrachtete, hatten die Ãltesten mich verstoÃen. Sie hatten meine Dienste in Anspruch genommen und mich dann fallen gelassen, weil es ihnen wichtiger war, die Bewohner der Enklave in Unwissenheit und Angst zu halten. Oben hatte ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, etwas wert zu sein, und das machte die unangenehmen Begleiterscheinungen wie Schule und spottende Bälger gleich um einiges erträglicher.
» Er kommt«, sagte ich atemlos.
Oma Oaks lächelte. » Er scheint ein netter junger Mann zu sein.«
» War es schlimm da drauÃen?«, fragte Edmund.
» AuÃer in den Ruinen habe ich noch nie so viele Freaks auf einmal gesehen«, antwortete ich.
» In Gotham?«, keuchte Oma Oaks.
Ich nickte. » Dort waren sie überallâ¦Â«
» Ich glaube, wir Menschen ziehen sie an«, überlegte Edmund. » Und zwar nicht nur, weil sie Hunger haben, sondern weil sie uns hassen. Sie geben uns die Schuld⦠die Schuld für das, was sie sind. Es geht ihnen nicht nur ums Ãberleben. Sie führen einen Krieg gegen uns.«
Edmunds Worte lieÃen die Härchen auf meinen Armen zu Berge stehen. Sie erinnerten mich an Mrs. Jamesâ Geschichte über Hybris und den angeblichen Ursprung der Freaks. Es war bestimmt nicht seine Absicht gewesen, aber für den Rest des Nachhausewegs konnte ich an nichts anderes mehr denken.
» Glaubst du das, was Mrs. James uns im Geschichtsunterricht erzählt?«, fragte ich Edmund, als wir eintraten.
Ich musterte sein müdes Gesicht und die Fältchen um seine Augen, die er den ganzen Tag lang beim Ledernähen zusammenkniff. Auf den Händen hatte er Narben von seiner Arbeit. Er schlurfte zu einem Sessel im Wohnzimmer, lieà sich mit einem Seufzen hineinsinken und rieb sich das Kinn.
» Ãber die Entstehung der Stummies?«, fragte er.
» Ja, Sir.«
Die Anrede schien ihm zu gefallen, und er richtete sich gleich ein Stückchen auf. Wahrscheinlich sprachen die Leute ihn, den Schuhmacher, nur selten so an. Ich fand seine Aufgabe wichtig und anerkennenswert. Ohne Edmund müssten wir alle barfuà laufen, und im Winter würden wir uns die Zehen abfrieren.
Oma Oaks schien glücklich,
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