Die Zuflucht
durchgemacht. Die Vorstellung, ich könnte mein neues Zuhause gleich wieder verlieren, machte mir entsetzliche Angstâ und wenn ich nicht gerade kämpfte, war ich der Angst genauso schutzlos ausgeliefert wie alle anderen. Ich verbarg es nur besser.
» Was ist passiert?«, rief der Wachposten von oben herunter.
» Stummies«, antwortete Draufgänger. » Wir haben sechs Leute verloren. Und jetzt macht das Tor auf, bevor es dunkel wird!«
Ein Raunen ging durch die Männer auf der Palisade, und ich hörte, wie die Nachricht sofort weitergegeben wurde. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Rufe über die gesamte Stadt. Die Männer dort oben mussten unglaublich erleichtert sein, dass sie nicht zu den Sommerpatrouillen gehörten. Nur eine Verrückte wie ich konnte dankbar sein für eine so gefährliche Aufgabe.
Als die Wachen uns hereinlieÃen, sah ich, dass wir bereits erwartet wurden: Hinter dem Tor standen Männer und Frauen und suchten ängstlich nach ihren Familienmitgliedern. Zu meiner Ãberraschung war auch Oma Oaks unter ihnen. Sie hatte Edmund im Schlepptau. Dass er mitgekommen war, hellte meine Stimmung ein wenig auf. Ich hatte befürchtet, er könnte in mir nur einen lästigen Störenfried sehen, der in seinem Haus schläft und ihm das Essen wegnimmt. Anscheinend hatte ich mich getäuscht.
» Du bist ja über und über mit Blut beschmiert«, sagte Oma Oaks mit einem unterdrückten Schluchzen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Edmund tätschelte ihr hilflos den Rücken.
» Mir ist nichts passiert.« Ich verstand nicht, was sie hatte.
» Umarm sie«, flüsterte Draufgänger mir ins Ohr. » Sie hat schon mal ein Kind verloren, und jetzt, da sie dich adoptiert hatâ¦Â«
Adoptiert. Schon wieder ein neues Wort. Ich wusste nicht, was es bedeutete, aber es schien mir etwas damit zu tun zu haben, wie sie zitternd die Hände nach mir ausstreckte und wieder zurückzog, als wüsste sie nicht, wohin mit ihnen. Ich trat auf sie zu und legte ihr unsicher eine Hand auf die Schulter.
Frauen sind eben sehr emotional, sagte Edmunds Blick, und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass wir uns verstanden. Falls die Frauen in Erlösung alle so waren, würde ich nie eine von ihnen werden, ganz egal wie viele Kleider Oma Oaks für mich nähte.
» Sie beruhigt sich gleich wieder«, murmelte Edmund.
» Ich habe mich schon beruhigt«, keifte seine Frau durch ihre Tränen. » Wir müssen nach Hause und dich waschen. Hoffentlich werden deine Sachen jemals wieder sauber.«
Das konnte ich nachvollziehen: Unten redeten die Leute auch manchmal von Dingen, die gar nichts mit dem zu tun hatten, was sie eigentlich beschäftigte. Es schien ein typisch menschliches Verhaltensmerkmal zu sein. Ohne weitere Nachfragen folgte ich meinen Pflegeeltern zu ihrem Haus und warf Bleich noch einen letzten Blick über die Schulter zu. Mr. Jensen war nicht gekommen. Es schien ihn nicht zu interessieren, ob sein neuer Gehilfe überlebt hatte oder nicht. Das war nicht fair. Schon gleich gar nicht, wenn ich sogar von zwei Menschen abgeholt wurde.
» Wartet«, sagte ich.
Edmund blickte mich verärgert an, als fürchtete er, das Abendessen zu verpassen. » Was ist los?«
» Kann Bleich mit uns essen?«
Oma Oaks wirkte höchst erstaunt, allerdings nicht, weil ich Bleich mitnehmen wollte. » Aber natürlich. Deine Freunde können dich besuchen, wann immer du willst. Unser Haus ist jetzt auch dein Haus.«
Bis zum heutigen Abend hatte ich gedacht, sie hätte mich nur aus Pflichtgefühl aufgenommen, als Almosen sozusagen. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich ihr wirklich wichtig war. Warum auch? Ich war kein normales Mädchen, niemand, den sie sich freiwillig als Tochter ausgesucht hätte. Doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht war eindeutig: Sie hatte sich Sorgen um mich gemacht. Das war etwas Neues in meinem Leben. Ich war Jägerin. Wenn ich von einer Patrouille nicht zurückkehrte, hieà das, dass ich meine Pflicht erfüllt hatte. Mehr nicht.
Mir wurde warm im Bauch, und ein Kribbeln breitete sich bis in meine Fingerspitzen aus. Aus einem spontanen Impuls heraus gab ich Oma Oaks eine kurze Umarmung, wie ich es bei den anderen Mädchen gesehen hatte, und sie schaute mich verdutzt an.
Oma Oaks hatte mich nicht einmal gezeugt, und ich bezweifle, dass das Mädchen, das mich
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