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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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Und Birgit? Weg, von einem Tag zum anderen, wie vom Erdboden verschluckt! Sehr viel später kam heraus, dass sie in irgendeiner betreuten Wohngruppe für sozial auffällige Jugendliche oder so was in der Art untergebracht worden war, in Reinbek, Norderstedt oder einem anderen unvorstellbar weit entfernten Stadtteil.
    Und jetzt war sie wieder aufgetaucht. Aus dem Nichts. Als ich sie zum ersten Mal an der Dönerbude sitzen sah, glotzte sie mich an, erkannte mich zum Glück aber nicht. Sie sah aus, als wäre bei ihr alles schiefgelaufen, was hatte schieflaufen können, und jetzt waren die Dönerbude und der Pissnelkenbahnhof Endstation.
    Sie schien noch besoffener zu sein als vergangenen Sonntag. Ein von Müllfraß und Sangria aufgeschwemmter Schrank von einer Frau, eine geschlechtslose Masse, der Trunksucht und Verwahrlosung ein unermessliches Alter ins Gesicht gedrückt hatten. Halb sitzend, halb abrutschend pult sie sich irgendwas aus den Zähnen. Ihr direkt aus der Brust wachsendes Säufergesicht ist glühend rot, das Haar liegt bretthart auf dem Rücken. Und früher, alssie noch gerade Glieder und klare Augen hatte, war sie einmal höchste sexuelle Verheißung gewesen.
    «Tiger, kommst du mit ins Kornfeld?»
    Mein damaliger Spitzname: Tiger, wg. guter Torwart. Es war damals in etwa so heiß wie heute gewesen, und ich wäre vor Erregung fast in Ohnmacht gefallen. Ins Kornfeld! Mit Birgit! Natürlich wollte ich! Was es mit dem Kornfeld wohl auf sich hatte? Doch hoffentlich das, was alle dachten! Das Problem war, dass Birgit mich das hätte
diskret
fragen müssen und nicht im Beisein von Petra und Marina. Die Ischen glotzten und lauerten und wussten ganz genau, dass ich nichts lieber getan hätte, als mit Birgit zwischen den wogenden Halmen zu verschwinden.
    «Ja, Tiger, jetzt wollen wir doch mal sehen, ob du tatsächlich mit Birgit ins Kornfeld gehst, Sauereien machen.»
    Mein Gott, Birgit, so blöd kann man doch gar nicht sein! Sie hat es einfach nicht begriffen und mich mit ihrem geilen Schweinchengesicht erwartungsfroh angestarrt. Mehr als ein halblautes «Nö» hatte ich dann natürlich nicht herausbekommen. Irgendwann begriff selbst Birgit es und machte sich vom Acker, auf der Suche nach dem nächsten Wackelkandidaten, und für mich hieß es wie gehabt mit Petra und Marina Bach stauen, Völkerball spielen und als säuischste aller Sauereien eine halbe Packung Ernte 23 wegrauchen, die Petra ihrem Vater geklaut hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich unendliche Verzweiflung darüber, dass etwas sagenhaft Geiles nur aufgrund lächerlich widriger Umstände nicht zustandegekommen war. Es musste das Paradies sein, mit Birgit im Kornfeld. Monatelang konnte ich an nichts anderes denken. Nur ein einziges Mal mit der frühreifen Verheißung im Weizen verschwinden!
    Und jetzt saß sie da mit vollgepissten Hosen auf einer Plastikbank und würde bald sterben. Alles hat seine Zeit, und jetzt ist es zu spät für Birgit und das Kornfeld. Traurig, traurig.
     
    Immer wenn ich meine Wohnung betrete, denke ich wie unter Zwang einen ganz bestimmten Satz: «Die Wohnung bedürfte kräftiger floraler Akzente.» Idiotisch, wo habe ich das nur aufgeschnappt. Ich hab’s nämlich überhaupt nicht mit Blumen, überhauptüberhauptüberhaupt nicht. Vor vielen Jahren hatte ich mal eine Yuccapalme besessen, aber nie gegossen (Gießen ist spießig). Irgendwann war «Schluss mit lustig» . (Peter Hahne). Eine unglaubliche Plackerei, das vertrocknete Riesenteil zu zersägen. Ansonsten kann ich gerade mal eben eine Tanne von einer Birke unterscheiden. Egal. Ich ging ins Wohnzimmer, ließ mich aufs Sofa fallen und stellte den Fernseher an.
    Das Sofa ist der Dreh- und Angelpunkt von ALLEM. Ich war unfassbar erschöpft. Vollkommen unverhältnismäßig. Woher rührte nur dieser Mangel an Energie? Als ob meine Brennstäbe schadhaft oder feucht wären und ich jetzt meine Restlaufzeit im Abklingbecken verbringen müsste. Niedrigenergiehaus. Keine Schubkraft. Eine Zeitlang hatte ich die Schilddrüse in Verdacht, die ist es ja immer. War natürlich Unfug, schade, ein eindeutiger Befund hätte vieles erleichtert.
    Meine Fernsehgewohnheiten sind vollkommen verwahrlost. Wenn ich nichts weiter vorhabe, glotze ich bestimmt fünf, sechs Stunden am Tag, und nur in den allergrößten Ausnahmefällen («Expeditionen ins Tierreich»/​Wiederholungen vom «Alten» auf 3SAT, natürlich nur die Folgen mit dem wunderbaren, hochverehrten, unvergessenen

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