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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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ausstoßend, schob sie sich, eine Hand am Geländer, schnaufend, japsend, keuchend, schnaubend,murmelnd, brütend und ächzend nach oben. Irgendetwas war seit geraumer Zeit im Gange mit ihr, eine Eintrübung, eine Verfinsterung ihres Gemüts, keine Depression, eher im Sinn einer unheilvollen Gemengelage aus Enttäuschung, Ärger und greller Wut, ein hochentzündlicher Schlechte-Laune-Cocktail, der mit gewöhnlicher schlechter Laune nur wenig zu tun hatte, viel schlimmer, viel, viel schlimmer. Dabei hatte sich
objektiv
nichts verändert. Alles wie immer, bei ihr, bei mir, und zwischen uns sowieso. Vielleicht Burnout, von dem Lehrer ja bekanntlich besonders häufig heimgesucht werden. Allerdings beklagte sie sich nie über ihre Arbeit, im Gegenteil, sie hing an den Kleinen, ich glaubte fast, dass der Job das Einzige war, was ihr noch halbwegs Freude bereitete.
    Es musste etwas anderes sein.
    Was um Himmels willen hatte sie schon wieder für Klamotten an? Die Hose kannte ich nicht, musste neu sein, formlos wie ein Büßergewand. Oben angekommen, legte sie sofort los:
    «Eine Scheiße ist das, die haben mich schon wieder abgeschleppt!»
    «Wieso das denn?»
    «Am Sonntag, das haben die noch nie gemacht. Dabei wissen die doch ganz genau, wie die Parkplatzsituation ist. Dreckschweine.»
    «Aber sonntags schleppen die doch nie ab, außer man stellt sich auf die Behindertenparkplätze.»
    «Behindertenparkplätze? Bist du verrückt!»
    Sie schrie jetzt fast, ihre Augäpfel traten aus den Höhlen. Es war grotesk und lächerlich. Aus ihrem entsicherten,  schussbereiten Mund löste sich der nächste Querschläger:
    «Glaubst du, ich erzähl hier irgendeinen Müll? Ich hab das mal ausgerechnet, ich hab letztes Jahr mehr Geld für Falschparken und Abschleppen bezahlt als für Steuern und Versicherung zusammen. Und wenn man Pech hat, bringen sie die Autos auch noch in den Autoknast, das sind statt 180   Euro gleich 350 oder mehr.»
    Sie hatte die höchstmögliche Erregungsstufe erreicht, einen Augenblick war ich davon überzeugt, dass sie mir eine reinhauen würde. Dann sackte sie plötzlich in sich zusammen, als hätte der Ausbruch sämtliche Kraftreserven verbraucht.
    Nachsatz, sehr leise: «Und dann noch diese Hitze, ich dreh durch.»
    Der Anfall war jäh auf seinem Überroll zusammengebrochen. Was ging hier vor? Möglicherweise war sie schwer krank und benötigte Medikamente, oder sie musste ins Krankenhaus oder wenigstens zur Kur oder Analyse. Noch immer stand sie im Treppenhaus und schaute mich an. Ihr Blick war nicht zu deuten, aber ich konnte es hören: ein tiefes Bohren und Reiben, Scharren und Wummern. Diese schreckliche Wut, was für Geräusche sie macht! Ein undrainierbarer Brocken Wut, ein Wutgerinnsel, das sich bald löst und zum Herzen wandert. Irgendwo musste doch eine Klappe sein, durch die man die Wut ablassen konnte, ein Wutwechsel musste her, dringend!
    Mainz bleibt Mainz. Klingelingeling.
    «Liebe Närrinnen und Narralesen! Wolle ma sie rauslasse, die alte, verbrauchte Wut?!»
    «Jawoll!»
    Und Tusch.
    Die Wut ist alt und gesättigt, da muss der Profi ran.
    «Einmal Wutwechsel, und machen Sie die Filter gleich mit, die sind auch schon ganz verstopft.»
    Sie merkte, dass sie den Bogen überspannt hatte, und zuckte mit den Schultern. Eine unverhältnismäßig schwache Entschuldigung, aber ich war zu erschöpft, um ihr Friedensangebot auszuschlagen:
    «Was willst du denn trinken?»
    «Erst mal Bier, wegen Durst. Danach Wein.»
    «Wollen wir nicht nochmal rausgehen?»
    «Nee, wirklich nicht. Mir reicht’s für heute!»
    Sie holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Ich ließ sie ein paar Minuten allein, damit sie sich fangen konnte. Als ich mit Wein und zwei Gläsern nachkam, hatte sie den Fernseher angemacht. Es schien ihr etwas besserzugehen.
    «Du musst mir glauben, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich muss wohl tatsächlich mal zum Schrauber.»
    «Ich sag dazu nichts. Mach es einfach und erzähl mir hinterher, wie’s war.»
     
    Schweigend tranken wir das erste Glas. Und das zweite. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist zweifellos alles gesagt, dann herrscht stillschweigende Übereinkunft über die wesentlichen Punkte. Es gibt nichts Neues zu erleben, und es wartet auch kein Abenteuer mehr an der nächsten Ecke. Im Nachtleben haben wir schon lange nichts mehr verloren. Nachtleben, lächerlich. Sollte einer von uns zufälligin einen Club geraten, würde man ihn für einen

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