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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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hastigen Schüben Luft in ihr Näschen, so als wolle sie eine Geruchsprobe von mir nehmen. Dann hüpfte sie hinter den Tresen, stellte sich auf die Zehenspitzen und beobachtete den Meister bei der Inspektion. Endlich hob Herr Diercks den Blick und schaute mich traurig an.
    «Das lohnt nicht mehr, Reparatur kostet vierzig Euro, ist nur ’ne Kienzle, das lohnt absolut nicht mehr.»
    «Aber die Uhr ist ein Erbstück, ich häng an ihr. Außerdem ist sie so schön schlicht, ich hätte sie eigentlich ganz gern wieder heile.»
    Die Kasperlfrau quakte leise und wippte hin und her. Jetzt wurde es dem Meister zu bunt. Er zeigte auf das Loch:
    «Nun geh mal wieder rein. Nun geh da mal wieder rein!» Laut quakend hüpfte sie zurück ins Loch. Herr Diercks schaute noch eine Spur trauriger.
    «Ja, wenn Sie wollen, mach ich Ihnen das natürlich. Vor nächster Woche Dienstag wird das allerdings nichts.»
    Er schien gut zu tun zu haben, Auslage hin, Auslage her.
    «Das reicht dicke. Ist nicht eilig.»
    Herr Diercks reichte mir wortlos den für einen Reparaturbon eigentlich viel zu großen Reparaturbon.
    «Toll, dass das klappt. Bis Montag.»
    Herr Diercks guckte schon wieder eine Spur trauriger.
    «Ade.»
    Ade. Wie schön das klang, viel schöner als Tschüs oder das beschissene Ciao oder grüß, grüß. Vielleicht stammte er aus Süddeutschland und bewahrte den Gruß als Erinnerung an seine alte Heimat auf der Zunge und in seinemHerzen. Dann verschwand auch er im Loch. Ich war allein im Laden und hätte sämtlichen Schmuck mitgehen lassen können (Gelegenheit. Aus Privatbesitz in Privatbesitz). Meine Güte, was ging hier vor? Wer um Himmels willen war diese Frau? Diercks Mutter? Seine Großmutter? Eine Wildfremde, die er in einem Verschlag hielt und um ihre Rente erleichterte? Schlief er gar zusammen mit ihr in einem Bett? Und warum alarmierte niemand die Polizei? Die Zustände mussten den Nachbarn doch bekannt sein. Alle verrückt geworden, alle verrückt.
     
    Weiter ging’s. Ein Einzelhandelsgeschäft reihte sich ans nächste: Reinigung, Buchladen, Schuhmacher, Schlüsseldienst, Bäcker, Fleischerei, Damenmode, Herrenmode, Blumenladen, Optiker, Bäcker, Farben & Lacke, Spielhalle, Fotogeschäft, Bäcker. Hinter jeder Tür ein Schicksal.
    Im Supermarkt (Plus) war nicht viel los. Regalmeter, Eyecatcher, Schokofallen, eine verworrene Welt voller Tabu-, Bück-, Quengel- und Kassenzonen. In Supermärkten ist alles Zone, gibt’s sonst nur beim Militär. Die riesigen Einkaufswagen wirkten wie Monster aus frühen japanischen Science-Fiction-Filmen. Die schweren, für Groß- und Hamsterkäufe konzipierten und mit gigantischem Fassungsvermögen ausgestatteten Stahlungetüme aktueller Bauart (je billiger der Discounter, desto größer die Einkaufswagen, denk ma logisch) grenzen eine Bevölkerungsgruppe aus, die es eh schon schwer genug hat: alte Menschen. Da die Alten zu schwach sind, die Biester durch endlose Regallabyrinthe zu bugsieren, werden sie gezwungen, ihre Besorgungen in den überteuerten Filialender Schlemmermärkte oder einer anderen Luxuskette zu tätigen, den einzigen Supermärkten, die noch Handkörbe und Kindereinkaufswagen anbieten. Gourmet-Tempel sind Mausefallen, die alten Menschen ihre Ersparnisse abpressen und sie verarmt wieder ausspucken. Eigentlich müsste man sich viel mehr für alte Menschen einsetzen, gerade als (noch!) jüngerer Mensch. Alte haben praktisch keine Lobby, gibt’s die Grauen Panther überhaupt noch? Ich schrieb ein paar Stichworte auf die Rückseite des riesengroßen Dierck’schen Reparaturbons:
Alte Leute befreien
. Vielleicht ließe sich daraus was machen.
    In meinem Wagen lagen erst vier Artikel. Spülmittel, H-Milch , Salz und Druckerpapier. Das lohnte nicht. Ich brauchte noch was Großes, Klobiges, etwas, das Masse macht, Verdrängung betreibt. Haushaltstücher, Toilettenpapier, eine Vorrats- oder Familienpackung von irgendwas. Ich entschied mich für einen Achterpack dreilagiger Haushaltstücher (die können gar nicht genug Lagen haben). Mit einer Packung frischer Rosen rundete ich den Einkauf ab und dachte meinen einzigen Satz laut vor mich hin: «Die Wohnung bedarf kräftiger floraler Akzente.» Discounterblumen halten nur einen halben Tag, sind dafür jedoch superbillig. Penny bietet nun sogar mit dem «Penny Blumengruß» dem Marktführer Fleurop Paroli. Bravo! Der hat die Welt lange genug mit überteuerten Schnittblumen überzogen. Lange dauert’s nicht mehr, dann kann man bei Lidl

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