Die Zunge Europas
gegenüber: das Publikum. Ein flüchtiger Blick in den Saal kurz vor Beginn einer durchschnittlichen Show: halslose, zerfurchte, grenzdebile, schenkelklopfende Kretins, so weit das Auge reicht. Ein Albtraum, der den
Künstler
bis in den Schlaf verfolgt. Nein, o nein, o nein, was ist das denn? Was läuft nur so schrecklich schief und krumm und falsch? Alles. O Gott, o Gott! Wie alt sind die denn eigentlich alle? Keiner unter fünfundvierzig. Ach was, fünfzig. Und was für Klamotten haben die an (KIK – nur nackt ist billiger!). Und die Gesichter, was für Gesichter haben die? Gebrochene Augen, schiefe Nasen, Adernelend, geisteskrankes Gelächter. Da muss ein Fehler passiert sein, die Castingfirma hat versehentlich die Belegschaft einer Tagesklinik angekarrt. Nicht eine einzige geile Alte! Nicht eine auch nur annähernd geile Alte! Und kein einziger cooler Typ. Es ist nicht nur überhaupt nicht cool und sexy. Es ist Samenkäse. Sacksuppe. Schwanzbrand. Ein Wahnsinn! Die furchtbare Wahrheit.
Das Telefon klingelte. Für gewöhnlich rufen mich nur die Großeltern oder Sonja auf dem Festnetz an. Oder Callcenter oder verwählt.
«Musikschule Meinhard Gnom. Aus Noten wachsen Hälse.»
Ich melde mich nie mit meinem Namen. Langweilig: «Markus Erdmann, guten Tag.» – «Erdmann, hallo.» Oder gar: «Markus hier.» Da legen interessante Menschen doch gleich wieder auf. Wie schön es wäre, Meinhard Gnom zu heißen und irgendwo in der norddeutschen Tiefebene eine kleine, aber feine Musikschule zu betreiben, mit dem Firmenlogo als Programm: «Musikschule Meinhard Gnom … und aus Noten wachsen Hälse».
«Hier ist Sven.»
«Bist du schon wieder zu Hause? Ich dachte, du würdest erst heute zurückkommen?»
«Wollte ich eigentlich auch, aber ich bin gestern Nacht noch gefahren.»
«Wie, gestern Nacht? Und, wie viel hattest du gesoffen?»
«Zu viel natürlich. Ist ja auch egal. Weißt du, wie viele gestern da waren?»
«Nein.»
«Rat mal.»
«Was soll das, ich mag diese Raterei nicht.»
«Bitte, nur einmal. Raten.»
«100.»
«66. Das musst du dir mal vorstellen. 66!»
«Das ist wenig.»
«Wenig? Eine Katastrophe. Freitag 105, Sonnabend 110 und gestern 66. Hörst du, 66! Das ist neuer Minusrekord. Jetzt geht’s endgültig den Bach runter.»
Mein Partner Sven hatte sein zweites Bühnenprogramm«Strafarbeit» . (der Titel war zur Abwechslung mal ihm eingefallen. Ich fand ihn total öde, er hatte drauf bestanden, na ja, irgendwie auch egal) in zwei Jahren knapp vierhundert Mal gespielt. Die Großstädte besuchte er bereits in der dritten oder vierten Schleife. Es gab praktisch keinen Ort über hundert Einwohner, in dem er damit noch nicht gewesen war.
«So geht’s einfach nicht weiter. Wir müssen dringend was machen.»
«
Wir
ist gut. Du meinst,
ich
muss was machen. Mir fällt aber gerade nix ein. Außerdem findest du ja eh immer alles Scheiße.»
«So. Das weißt du doch gar nicht. Sag doch mal was.»
«Also gut. Meine Notizen der letzten Stunden. Soll ich’s dir wirklich vorlesen? Dein Risiko.»
«Ja, mach mal.»
«Also: Fettschürze, Analjazz, Dudelsackhose, Weltraumdünger. Der Schwanz ist das Kainsmal des Hundes. Und das Beste zum Schluss: Neger sind die Nutten Bulgariens. Nee, umgekehrt, Nutten sind die Neger Bulgariens.»
Schweigen.
«Ich hab dich extra gefragt, ob ich’s dir vorlesen soll. Das ist exakt das, was mir eingefallen ist.»
«Jaja. Pass auf, was hältst du davon, wenn ich nachher mal vorbeikomme? Um sieben?»
«Ja, von mir aus. Bis später.»
Ursprünglich hatte Sven für die Reisesendung als Warmupper gearbeitet. Der Job des Anheizers war für ihn aber nur Durchgangsstation. Er fühlte sich zu Höherem berufen. Warmuppern gelingt ja auch immer mal wieder derSprung von der anonymen Stimmungskanone zum eigentlichen Star. Und Sven brachte die entscheidende Voraussetzung mit, die mir fehlte: den Willen zum Erfolg, denn die Regel ist, dass derjenige es schafft, der es wirklich
will
. Nachdem die Sendung abgesetzt worden war, schlug er mir eine Zusammenarbeit vor: Er als gesichtsbekannter Vollidiot (er benutzte irgendeine andere Formulierung), ich als
Autor
.
Headwriter, Writer, Supervisor und künstlerischer Leiter
. Oder Manager, General Manager, Head Manager, Executive Manager, kanns dir was aussuchen.
Als Erstes musste eine Figur her, austauschbar, beliebig und bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Gar nicht so einfach, war ja alles schon besetzt: Frührentner, ewige
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