Die Zunge Europas
Studenten, Polizisten, Soldaten, Freaks, Beamte in allen Schattierungen, Hausmeister in sämtlichen Varianten. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten wir uns für einen Päderasten oder Robbenschlächter entschieden. Oder einen Serienmörder, der wie alle Serienmörder, wenn sie nicht gerade in Serie morden, ein liebenswerter Trottel mit spießigen Hobbys und nervigen Angewohnheiten ist. Die andere Seite: Er leidet an einer der Forensik bislang nicht bekannten seelischen Abartigkeit, einer progredienten sadistischen Perversion vor dem Hintergrund einer Borderlinestörung, deren maximale Wunschvorstellung es ist, seinem sterbenden Opfer beim Koitus ans pochende Herz zu fassen. Einen Titel für das Serienmörderprogramm hatte ich auch schon: «Menschlich gesehen». Na ja, nachdem Robbenschlächter, Päderast, Serienmörder und noch ein paar andere «Vorschläge» sich als nicht konsensfähig erwiesen hatten, einigten wir uns auf «HerrnWolter», einen aus sämtlichen Klischees und Versatzstücken zusammengeschusterten Lehrer. Herr Wolter ist ein geiziger, linkischer, pedantischer Pauker, der selten die Wäsche wechselt und geil ist wie eine Natter. Normales, langweiliges Flickwerk. In nur drei Wochen hatte ich das erste Bühnenprogramm zusammen, das sich überraschenderweise (zumindest ich war überrascht) zu einem Renner entwickelte. Der Clou der Liveperformance ist, dass Herr Wolter den Saal in ein Klassenzimmer verwandelt, mit dem Publikum als Schüler. Die Leute lassen wirklich erstaunlich viel mit sich machen. Sie
wollen
schließlich lachen. Witzeverkaufsveranstaltungen, ein Witz – ein Euro. Zwei Stunden ohne Story, ohne Höhepunkt und ohne Bedeutung.
Herr Wolter
marschierte durch und war auf dem Höhepunkt seiner Karriere regelmäßiger Gast in den Comedyshows der Republik. Lange währte der Ruhm jedoch nicht, denn je eindimensionaler die Figur, desto geringer ihre Halbwertzeit. Irgendwann war Herr Wolter durch, und die Besucherzahlen halbierten sich binnen eines Jahres. Es kam jetzt immer häufiger vor, dass Sven vom Veranstalter im Anschluss noch nicht mal mehr in ein
uriges
Altstadtlokal zum obligatorischen Schoppenwein eingeladen wurde. Ganz schlechtes Zeichen. Ihm drohte das Schicksal vieler Stars, die die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig ekennen und langsam, aber sicher nach unten durchgereicht werden: Moderation von irgendwas, Stargast auf Ü-3 0-Partys , Appetizer für Bigbrother Jürgen auf Mallorca oder Sidekick bei Tim Mälzers Livekochshow, wo die Karriere dann als lauwarme Fünf-Minuten-Terrine ausklingt.Und davor hatte er Angst. Panische Angst. Der Figur lediglich ein Facelift zu verpassen reichte nicht. Herr Wolter musste entsorgt werden. Und nun war guter Rat teuer.
Von dem ewigen Sofageliege hatte ich Nackenschmerzen bekommen. Scheißnacken, Scheißrücken. Ich musste mich dringend bewegen. Vielleicht einkaufen, erledigt sich ja auch nicht von selbst. Schließlich war heute der «Tag der Routinetätigkeiten». Wenn es nichts Konkretes zu besorgen gibt, kauft man haltbare Produkte wie H-Milch , Waschmittel, Salz, Zahnpasta, Batterien oder Nudeln, davon kann man nie genug im Haus haben: Bunkerbzw. Hamsterkäufe (Hamburg ist – sturmflutgefährdetes Dauerkrisengebiet).
Ich musste dringend mal wieder Altglas entsorgen, es stapelten sich mittlerweile bestimmt sechzig Einwegflaschen unter der Spüle. Oder siebzig oder achtzig. Aber bei der Hitze! Ging einfach nicht. Wenn ich das Altglas nicht bald entsorge, wird es irgendwann mich entsorgen: Nachts, wenn ich schlafe, schließt sich das Leergut heimlich und leise zu einem Verband zusammen, kriecht unter meinen Rücken und schafft mich, einem Trupp Wanderameisen gleich, unendlich langsam zum Altglascontainer. Eine Pfandflaschenprozession. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Na ja, wenn mir schon die Kraft zur überfälligen Altglasentsorgung fehlte, konnte ich wenigstens meine alte Kienzle-Uhr in die Reparatur geben, die vor Ewigkeiten stehengeblieben war und seither ein ausgesprochenes Schattendasein fristete.
Gesagt, getan! Auf zum Uhrmacher! Mit frischen Kräften ging’s zum Uhrmacher. Erste Station war der nur zehn Minuten entfernte Uhrmacher. Das unauffällige Uhrmachermeistergeschäft war nur einen Steinwurf entfernt. Ich fragte mich gespannt, ob der kleine Uhrmacherladen überhaupt geöffnet hatte. Entnervt schleppte ich mich zum Uhrmacher. Zweimal lang hingeschlagen, schon stand ich vorm Uhrmacher.
«Diercks Uhrma
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