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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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  …» Sollte der Länge nach zu urteilen wohl Uhrmachermeister heißen, aber zum ganz Lesen war es zu heiß. Ich hatte das muffige Ladengeschäft viele Jahre schlichtweg übersehen.
Eines schönen Tages
bin ich aus einer Laune heraus vor dem Schaufenster stehengeblieben, um mir die Auslagen anzuschauen: Ringe, Goldketten, Armbänder, Broschen und natürlich Uhren. Uhren, Uhren, Uhren. Na ja, so viele nun auch wieder nicht. Kommissionsware, wie den kleinen Papptäfelchen zu entnehmen war: «Gelegenheit. Aus Privatbesitz». Am besten hatten mir ein Goldring mit braunem Stein für 390   Mark und eine Uhr mit braunem Lederarmband für 460 gefallen. Ich war kein Ringträger, und eine Uhr hatte ich bereits. Als ich mir ungefähr ein Jahr später die Auslage erneut anschaute, lagen Ring und Uhr an ihrem alten Platz: «Gelegenheit. Aus Privatbesitz». Die Staubschicht schien etwas dicker geworden zu sein, die Preise hingegen waren stabil geblieben. Auch die anderen Schmuckstücke lagen, wo sie gelegen hatten. Von da an kontrollierte ich die Auslage einmal im Quartal. Nichts, absolut nichts tat sich, dabei war der Schmuck doch ganz schön! Erst nach der Euro-Umstellung kam Bewegung in die Angelegenheit:Bereits am Nachmittag des zweiten Januar 2002 waren sämtliche Schmuckstücke in Euro ausgepreist (ausgepriesen?). Der Ring kostete 195   Euro und die Uhr 230.   Auch in den kommenden Jahren kam weder ein Schmuckstück dazu, noch wurde etwas verkauft, allerdings war die Kommissionsware wohl mittlerweile in den Privatbesitz von Herrn Diercks übergegangen. Vielleicht war das Schaufenster auch kein gewöhnliches Schaufenster, sondern ein unverkäufliches Kunstwerk.
    Die Begehung der Dierck’schen Katakomben kostete mich enorme Überwindung. In der einen langen Minute, in der ich vor Angst, Respekt undwasweißich vor der Tür stand, erschloss sich mir die Bedeutung des Begriffs «Hemmschwelle» in seiner ganzen Breite. Vielleicht hing ja Diercks mumifizierte Leiche über dem Tresen, in der rechten Hand eine Uhr, in der linken ein Handwerksmeisterfeinschraubenzieher. Knääärz. Quiiietsch. Die Tür knarrte wie nichts Gutes. Zögerlich setzte ich einen Schritt hinein. Es herrschte eine nur vom Ticken unzähliger Uhren überlagerte Stille. Das meine ich schon oft gelesen zu haben, dass in Uhrmacherläden eine nur vom Ticken unzähliger Uhren überlagerte Stille herrscht. Innen war praktisch alles wie außen, in den frühen Sechzigern eingerichtet und seither nie was verändert. Warum auch. Braun. Alles braun. Tresen, Fußboden, Vitrinen, braun, braun, braun. Von Herrn Diercks keine Spur. Räuspern. Husten. Leises «Hallo».
    Plötzlich stand er hinter dem Tresen. Herr Diercks war blitzschnell aus einem Loch gehuscht, das offenbar zu einer dem Laden angeschlossenen Wohnung führte, undmusterte mich stumm. Er war Anfang sechzig, hatte einen mächtigen Spitzbauch, einen grauen Spitzbart und ein spitzes Kinn (auf gar keinen Fall überlesen:
Spitzbart, Spitzbauch, spitzes
Kinn). Mir schien etwas leicht Feindseliges in seiner Haltung zu liegen.
    «Guten Tag, die Uhr hier hat ihren Dienst versagt. Kann man da noch was machen?»
    Herr Diercks klemmte sich eine Art Monokel in das rechte Auge und inspizierte den Oldtimer. Knisterknister, tickticktick. Er hielt die Uhr gegen das braunstichige Tageslicht und schien überhaupt nicht zufrieden zu sein. Die tickenden Uhren und das braune Interieur machten mich müde. Was tat er da eigentlich genau? Lieber nicht durch vorlaute Fragerei den Zorn des Meisters heraufbeschwören. Knisterknusper, tickticktack. Erneut hielt Herr Diercks die Uhr gegens Licht, dann machte er sich am Handaufzug zu schaffen.
    Plötzlich kam aus dem Loch eine steinalte, sehr dünne und sehr zerzauste Frau gehopst und hüpfte wie ein durchgedrehtes Kasperlpüppchen mit irre flackerndem Blick zur Eingangstür, wobei sie eigentümliche Quakgeräusche ausstieß. Ihre Glieder sahen aus, als wären sie verrenkt, verstaucht oder gebrochen. Herr Diercks tat, als habe er sie nicht bemerkt, und setzte stoisch seine Untersuchung fort. Die Verrückte öffnete die Tür, hielt ihr Köpfchen in die Sonne, schloss die Tür wieder und hüpfte blitzschnell auf mich zu. Ungefähr zehn Zentimeter vor mir kam sie zum Stillstand, tippelte von einem Bein aufs andere und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Angst! Ruckartig schnellte ihr verschrumpeltes Köpfchen nach vorn. Jetztbeißt sie mich, dachte ich, aua. Doch sie sog nur in

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