Die Zunge Europas
mitnimmt, was geht. Sven sieht immer irgendwie fertig aus, aber auf eine geile Art. Wenn andere Männer fertig aussehen, sehen sie aus wie Heckenpenner, Sven sieht mit den Falten, Kerben, Rissen, Narben, Schmissen männlich aus, markig, er hat die Anmutung legendärer amerikanischer Westernhelden. Mischung aus Raubvogel und Westernheld. Außerdem umgibt ihn eine Aura von Verschlagenheit, Täuschung und Betrug. Frauen mögen das, sie erkennen in ihm den Meister, den Lustmenschen, den reißenden Wolf, der ihnen das verschafft, was sie von ihren herunterdemokratisierten, kastrierten Stoffeln daheim niemals bekommen und auch nicht bekommen wollen: Chaos, Rausch und Schweinerei. Herrlich. Er ist tatsächlich der einzige Mainstream-Comedian mit einem gewissen Anteil von geilen Alten im Publikum.
Außerdem ist er verheiratet (kinderlos). Ewig schon. Und noch nie, wirklich noch nie ist etwas herausgekommen. Ich glaube, dass seine Frau von seinem Doppelleben noch nicht mal ahnt. Eine entsprechende Verabredung haben sie auch nicht. Erstaunlich. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit habe ich ihn häufiger zu Auftritten begleitet und hochgerechnet: vier-, eher fünfhundert. Er ist der Mann mit den «häufigsten sexuellen Kontakten infolge von Bühnendarbietungen im deutschsprachigen Raum». Mir ist diese gestelzte Formulierung irgendwann mal eingefallen. Er hasst sie wie die Pest, deshalb benutze ich sie, wenn wir uns streiten. Sven blieb auf halber Treppe stehen.
«Wollen wir noch ein bisschen nach draußen gehen? Bitte!»
«Von mir aus, gehen wir in den Park. Ich nehm ein paar Bier mit.»
Der nur wenige Minuten entfernte, winzige Park ist eigentlich kein Park, sondern ein
Platz
. Öde, trocken, staubig, von spärlichem Bewuchs umsäumt, Wüste. Deshalb nenne ich ihn Sandpark. Im Zentrum des Sandparks hat früher einmal ein Gebäude der Hamburger Elektrizitätswerke oder etwas in der Art gestanden. Nach dem Abriss konnte sich die Behörde (oder wer dafür zuständig ist; Behörde passt immer) nicht entscheiden, wie der Platz umgestaltet werden sollte. Der Sandpark war, gerade weil er so lebensfeindlich, provisorisch und unwirtlich ist, zu meinem Lieblingsplatz geworden, ein auf schwer zu erklärende Weise
magischer
Ort.
In der westlichen Ecke hatte man pünktlich zum Frühlingsbeginn ein Straßenschachfeld errichtet. Wer hinter
man
steckte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich «von privat» gespendet, wie ein paar der mit dem Namen der Mäzene («diese Bank wurde gespendet von Textilhaus Wurz») gekennzeichneten Bänke. Die Rentner, die sich seit eh und je täglich im Sandpark treffen, um ihre viele Tagesfreizeit abzuleben, hatten diese Neuerung begeistert aufgenommen. Bei gutem Wetter treffen sich die eifrigsten bereits gegen acht Uhr, um unermüdlich dem Spiel der Könige zu frönen. Jeden Tag das gleiche Bild: Die Opas wuchten die klobigen Figuren von einem Feld aufs nächste, die Omas sitzen auf den Bänken und tuscheln. Seit der Jugend hatte sich nicht viel geändert. Zur Mittagszeit verziehen sich die Alten zum Essen in ihre Wohnungen, und eineinhalbStunden später trudeln sie zur Nachmittagsschicht wieder ein. Es lastet immer ein süßlich stechender Geruch von Salben, Pflastern, Verbänden und Desinfektionsmitteln über ihrem Revier. Hautfarbene Salbe riecht anders als weißes Gel als hellbraunes Puder als beige Paste als schwarze Creme als Tubenpflaster. In dicken Schichten wird Salbe auf Gel auf Creme auf Spray auf Puder aufgetragen, die Haut saugt sich voll wie ein Schwamm, und das Gemisch sickert tiefer und tiefer. Halb Mensch, halb Salbe. Irgendwann erkennen die körpereigenen Abwehrkräfte nicht mehr, was was ist, und greifen an. Schrecklich. Der furchtbare Geruch gemahnt uns Jüngere: niemals alt zu werden!
Die Bänke auf der gegenüberliegenden Seite werden in den Sommermonaten von einer Gruppe pechschwarzer Rastamen und ihrer aus ein paar übergewichtigen Mädchen bestehenden Entourage besetzt gehalten. Sie sitzen meist einfach nur da, kiffen, was das Zeug hält, und lauschen der immer gleichen Reggaesoße, die aus ihrem vorsintflutlich großen Ghettoblaster quillt. Selbst wenn sie mal einen Tag aussetzen, hält sich über ihren Bänken eine zähe Cannabiswolke. Die Weiber glotzen Löcher in die Luft und vermitteln im Übrigen den Eindruck, als hielten sie sich zur Verfügung. Ausländer benehmen sich häufig wie ihrer Vorbilder aus der Kanakcomedy, die Grenzen sind seltsam fließend. Ob mangelhaft
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