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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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Juwelen kaufen.
     
    Zu Hause übertrug ich das Gekritzel vom Dierck’schen Reparaturbon brav in die Chinakladde. Es galt, den unerwartetenSchwung zu nutzen. Eine atemberaubende Aufholjagd, an deren Ende ich dem verlorenen Tag noch ein zweites Mal in den Arsch treten würde, denn mit der einen Stunde von heute Vormittag war ich schon bei insgesamt vier Stunden (Cluster/​Return of Investment/​Time slot/​Leistungsbilanz). Und bei dem anstehenden Treffen mit Sven handelte es sich streng genommen ebenfalls um eine Arbeitseinheit. Summa summarum sechs Stunden. Hinzu kommen die zwei Stunden, die ich täglich einspare, weil ich nicht zur Arbeit pendele = acht Stunden! Plus Uhr wegbringen und einkaufen: ein knallharter Zwölfstundentag. So muss man’s mal sehen!
     
    Unsere Mission
     
    Wir sind eine kleine, verschworene Gemeinschaft und haben uns zum Ziel gesetzt, alte Leute zu befreien.
    Im Schutz der Dunkelheit dringen wir in Altersheime, Krankenhäuser und Seniorenstifte ein, wickeln die alten Leute in warme Decken und bringen sie in die Freiheit.
    Manche tun wir vorsichtig in Teiche und Tümpel.
    Sofort schwimmen sie davon oder verstecken sich im dichten Ufergestrüpp.
    Andere bringen wir auf Wiesen und Weiden.
    Dort stehen sie noch ein paar Minuten dicht gedrängt beisammen, ziehen aber schon wenig später in kleinen Gruppen weiter.
    Jede Oma kriegt von uns ein Stück Käse und die Opis Wurst.
    Einige, meist die ganz Alten, wollen lieber auf hohe Bäume gebracht werden.
    Sie kauern dann ganz glücklich im Geäst und atmen tief die
gute, grüne Waldluft ein, und der ganze alte Teppichboden- und Heizungs- und Klogeruch wird aus ihren zarten Lungen gepustet, die dünnen gelben Haare flattern im Wind, und sie reiben sich an der Rinde.
    Manchmal kommt ein großer Vogel, packt ganz vorsichtig eine Oma, fliegt mit ihr in der Gegend herum und setzt sie behutsam wieder ab.
    Neulich wollten zwei Opas unbedingt in Erdhöhlen leben, dort haben wir sie dann hingebracht.
    Gleich fingen sie an, zu scharren und zu buddeln, und waren schnell verschwunden.
    Endlich weg von den alten Matratzen und Keimen und defekten Elektrogeräten.
    Die beiden werden zusammenbleiben bis zum Schluss.
     
    Manche befinden sich in einem ganz schlechten Zustand, wenn wir sie befreien.
    Wir müssen sie dann erst von alten Belägen reinigen, ihre Augen sind ganz verklebt und alles, und sie sind sehr schwach.
    Sie brauchen dann erst einmal ein paar Tage, bis wir sie in unseren Privatwohnungen richtig aufgepäppelt haben.
    Einige mag man gar nicht mehr weglassen, drum muss man sehen, dass der Kontakt nicht zu eng wird.
    Ich hatte jetzt zwei Wochen einen Opi bei mir und bin schon ganz traurig, denn bald heißt es Abschied nehmen, wahrscheinlich für immer.
    Ich wickle ihn wieder vorsichtig in eine schöne warme Decke, dann fahren wir nachts ins Moor, dort wo er hinwill.
    Etwas unschlüssig noch geht er jetzt einige Schritte in die Dunkelheit.
    Plötzlich ist hinter mir ein Geräusch, ich erschrecke, blicke mich hastig um, ach, nichts weiter, nur ein Kitzlein.
    Ich dreh mich wieder zum Opa, doch der ist schon weg.
    Ganz geräuschlos ist er im Moorbewuchs verschwunden.
    Ich stehe noch ein paar Minuten einfach so da, warte, bis der Geruch verflogen ist, und fahre dann ganz nachdenklich wieder nach Hause.
     
    Das ist unsere Mission (ostentativ)
     
    Knapp zwei Stunden hatte ich für den Text benötigt. Überlegenes Material. Jetzt fehlte nur noch der richtige Interpret. Gunter Gabriel? Der war doch bekannt für seine soziale Ader und dafür, dass er sich für Minderheiten einsetzt (Hey Boss, ich brauch mehr Geld).
     
    Kurz vor sieben klingelte es. Sven. Was für ein Glück es sein muss, so auszusehen wie er: Er hat ein scharf geschnittenes, markantes Gesicht mit stechend blauen Augen und einer leichten Höckernase, Typ Raubvogel. Wegen Glatzengefahr rasiert er sich seit neuestem die Haare rappelkurz. Mir würde ein solcher Panzerknackerschnitt wegen meines Mondgesichts nie im Leben stehen (außerdem sind Haare für mich ein Schutz, eine Mauer, ein Wall), aber Sven gereicht die Türsteherfrisur zum Vorteil: Sie macht ihn sogar noch attraktiver. Dick wird er auch nie, sein Stoffwechsel scheint sich mit zunehmendem Alter sogar noch zu beschleunigen: ausgemergelt. Drahtig. Hager. Sehnig. Ein Begünstigter. Obwohl er vierzig ist, führt er immer noch den lächerlich ruinösen Lebenswandel eines Popstars, dergerade seine erste Nummer eins hat und alles

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