Die Zunge Europas
später. Agassi hatte mit starkem Haarausfall zu kämpfen (er wurde häufig von seinem älteren Bruder zu den Turnieren begleitet, dessen blitzblank polierte Billardkugel die genetische Disposition der männlichen Agassis erahnen ließ). Eine Zeitlang kaschierte Andre seine diversen Tonsuren mit albernen Mützchen und Tüchern und ließ sich die verbliebenen Zotteln bis zum Arsch wachsen, doch irgendwann brach er unter dem Dauerfeuer der Boulevardpresse ein. Den Vogel schoss mal wieder die «Bild»-Zeitung ab, die ihn von «Tennispunk» in «Aglatzi» umtaufte.
Was ich nicht alles über Tennis wusste! Weiter. «Wissenschaft und Technik»: Ingenieure bauen einen Sportwagen mit Elektroantrieb. Interessierte mich nicht. Sportwagen ohne Verbrennungsmotor, da lachen ja schon wieder die Hühner. Dann stieß ich doch noch auf eine halbwegs interessante Meldung: Gleich zwei U S-Studien wollten herausgefunden haben, dass regelmäßiger Genuss von Alkohollangfristig zu einem höheren Einkommen führt. Arbeitnehmer, die trinken, verdienen bis zu 14 % mehr als Abstinenzler, ein Phänomen, das allerdings nur bei Männern zu beobachten ist. Der Grund: Trinken in Gesellschaft fördert die Bildung von Sozialkapital. Geselligkeitstrinker integrieren sich in Netzwerke und pflegen Beziehungen. Der Effekt tritt allerdings nur auf, wenn der Alkohol in Gesellschaft genossen wird. Alleine saufen bringt also nichts. Das barg ein gewisses Potenzial, ich wusste nur nicht genau, welches. Egal, aufschreiben.
Aus dem Fenster gucken war langweilig. Ich wandte mich unauffällig den Schlipsmännern zu. Der Linke war ganz dick und weich und fleischig. Mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck zog er sich alle paar Augenblicke ein riesiges, knallgelbes Taschentuch über den Nacken. Endlich mal jemand, dem die Hitze auch was ausmachte. Komisch. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er schien auf eine merkwürdige Art zu verschwimmen, als ob seine an den Rändern bereits durchsichtig schimmernde Masse auseinanderflösse. Vielleicht rührte dieser Eindruck daher, dass er nicht von Knochen, sondern von Gräten zusammengehalten wurde. Eine männliche Meerjungfrau. Man hatte ihm jede Gräte einzeln gebrochen, und jetzt versagte auch noch das Bindegewebe. Blickfang seines Gesichts war der volle, erschlaffte Mund. Sein extrem dehnbarer Kiefer sah aus wie der einer Schlange, als könne er den Mund ganz über den Kopf stülpen, um sich so vor Fressfeinden zu schützen. Entweder war es ganz genau so. Oder anders: Mir gegenüber saß ein im Dienst des Guide Michelin tätiger Restauranttester mit einer durch unablässigesSchmecken, Schlabbern, Schlürfen und Rotwein Einatmen geformten Maske des totalen Genusses. Oder noch was anderes: Der Chefeinkäufer einer Supermarktkette für Tiernahrung, der mit den Jahren selbst einem Fressnapf zu ähneln beginnt. Na ja. Optionen halt.
Sein Sitznachbar wirkte müde und eingefallen. Das fliehende Kinn ging direkt in den schlaffen Hals (Treppenkinn) über und der Hals in den Schlips, auf dem sich Goofy, Donald und Onkel Dagobert ein turbulentes Stelldichein gaben. Ein fließender Übergang. Goofy machte wie immer ein doofes Gesicht, und Onkel Dagobert jagte Donald (Geldangelegenheiten). Werden Mickymausschlipse heutzutage überhaupt noch hergestellt?
Er faltete die Zeitung zusammen, sein Kollege tat es ihm nach. Ihr überraschendes Gesprächsthema: China. Ich hätte eher mit dem beliebten Dauerbrenner «Scheiß-Deutsche-Bahn» gerechnet. Sich während einer Bahnfahrt über die «DEUTSCHE EISENBAHN» . (geschrieben mit extragroßen Großdruckbuchstaben) aufzuregen passt immer. Sagt sogar Hartmut Mehdorn, und der muss es schließlich wissen. An der DEUTSCHEN EISENBAHN ist nämlich alles schlecht, sie ist schlecht, sogar noch schlechter als die zweitschlechteste Gurkentruppe, die
DEUTSCHE TELEKOM. Die DEUTSCHE EISENBAHN ist ein verrotteter Staatsbetrieb, ein satter Monopolist, dessen Riesengehälter verschlingender Personalwasserkopf ausschließlich damit beschäftigt ist, mit miesesten Gangstermethoden die Konkurrenz klein zu halten («Wenn die Deutsche Eisenbahn mal eine unrentable Strecke an einen privaten Konkurrenten abgibt – zack, kurze Zeit späterist der Service deutlich besser, die Züge fahren pünktlich, und die Fahrpreise haben sie auch noch gesenkt. Wie machen die das nur? Ja, Scheiß-Deutsche-Eisenbahn, wie machen die das nur! Denk mal drüber nach, Scheiß-Deutsche-Eisenbahn»). Die
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