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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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halbe Umdrehung auf der Ekelschraube. Das Allerunappetitlichste aber: Ihm war die Kontrolle über seine Sekretion entglitten. Fortwährend rannen ihm Speichelfäden aus den Mundwinkeln, und wenn er sprach, stoben mächtige Spuckeschauer aus seinem Mund. Manchmal bildeten sich zwischen Ober- und Unterkiefer Spinnweben, groß wie Meisenknödel. Die Dusche nach dem Spiel hätten wir uns auch sparen können, da er uns währendder kompletten Trainingseinheit mit Gewittern erfrischte. Im Winter fand das Training immer Dienstag zwischen vier und sechs Uhr in einer maroden Turnhalle statt. Nach Aufwärm-, Konditions- und Techniktraining wurden Mannschaften gebildet, wegen des kleinen Spielfelds immer nur sechs gegen sechs, zweimal zehn Minuten. Die Jungen, die gerade nicht dran waren, saßen auf der Bank, kauten Kaugummi, langweilten sich und warteten auf ihren Einsatz. Eines nasskalten Dienstags saß ich direkt neben Herren Marquardt, der die Partie gewohnt nass und eklig leitete. Bei jedem Pfiff stoben Spuckeflocken aus dem zerkauten Stück Kautschuk. Vielleicht speichelte er die Pfeife ja auch ein, um sie nach Trainingsende, quasi zur Belohnung, zu essen. Dann passierte das Entsetzliche:
Speichelmann
stieß mich konspirativ an und hielt mir wortlos den abgenagten Klumpen hin. Das war sicher nett von ihm gemeint, eine Geste des Vertrauens, doch genauso wenig, wie die Irren wissen, dass sie irre sind, schien Herr Marquardt auch nur den blassesten Schimmer davon zu haben, wie es für einen zehnjährigen Jungen ist, eine von einem Alkoholiker abgekaute Trillerpfeife in den Mund zu nehmen. Ebenso gut hätte er mir seinen Schwanz hinhalten können. Ich spürte die Kotze in mir aufsteigen. So unauffällig wie möglich rieb ich den Stumpen an meiner Trainingshose trocken und führte ihn vorsichtig an den Mund, wobei ich die Lippen schürzte, um möglichst wenig Berührung mit der kontaminierten Oberfläche zu haben. Das hatte Auswirkung auf die Qualität der Pfiffe. Ganz schwach und zittrig waren sie und kaum zu hören.
    «Elfer, ey, das war ganz klar Elfer. Ey, Schiri, was los, hast du Buletten auf den Augen?»
    Das Spiel lief aus dem Ruder. Speichelmann starrte mich an.
    «Was machst du denn da. Mach ma ordentlich. Ach komm, gib her.»
    Er nahm mir die Pfeife wieder ab. Probe nicht bestanden. Ob Herr Marquardt noch lebte? Er musste mittlerweile in den hohen Achtzigern sein. Jugendtrainer ist er hoffentlich nicht mehr.
    Fantamann, Speichelmann, trübe Zweite-Klasse-Erinnerungen. Meine Nerven, meine armen Nerven, sie spielten verrückt, als fehlte die Dämpfung, die schützende Hülle, Federung und Stoßdämpfer kaputt, vielleicht war nachts jemand unbemerkt in mein Zimmer geschlichen und hatte sie ausgebaut. Und das Gehirnwasser gleich mit abgelassen. Wenn sich der Trübsinn erst verfestigt, entwickelt er ein Eigenleben, das Gehirn versucht sogar, die negative Stimmung aufrechtzuerhalten, indem es gezielt die Reize auswählt, die zur Niedergeschlagenheit passen.
    Ein kompletter Reset musste her. Eichung. Neuro-Enhancement.
     
    In Berlin war es noch ein paar Grad heißer als in Hamburg, das sog. Kontinentalklima. Auf der Taxifahrt versuchte ich, mir Herrn Block vorzustellen. Block, der Name war wahrscheinlich Programm: Nassforscher, juveniler BWLer, wie sie heutzutage die Chefetagen von Produktionsfirmen und T V-Sendern besetzt halten. Oliver-Geißen-Look(Oliver Geißen ist die konsequente Weiterentwicklung von Hans Meiser). Einer, der keine Zeit verschwendet, sondern Kompetenzen bündelt und Win-Win-Situationen schafft. Lieblingswort: Affin. Alles ist affin. Zielgruppenaffin, sowiesoaffin, sowiesoaffin. Robuste Konstitution, treibt täglich Sport, wird praktisch nie krank. Der scheißt den Viren auf den Kopf. Fundiert, konzentriert, studiert, versiert, motiviert (Reimlexikon). Apropos motiviert: Ich stellte mir vor, Block wäre der letzte Schüler von Jürgen Höller gewesen. Astrein. Höller-Schüler, wie beknackt das schon wieder klingt. Jürgen Höller, oberster aller Motivationsgurus, hatte in seinen Glanzzeiten mehrmals nacheinander die Dortmunder Westfalenhalle ausverkauft. Gestandene Manager latschten in Todesangst und unter hysterischen «Tschakka, du schaffst es»-Rufen – stimmt nicht ganz, Tschakka war Emil Ratelband, aber egal, kümmt vum Herze – durch Scherben und über brennende Teppiche und empfahlen sich nach bestandener Feuertaufe für einen kräftigen Karriereschub. Groteskes Schmierentheater, Jobtraining

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