Die Zunge Europas
versuchte, an etwas Schönes zu denken. Bilder meiner allerersten Bahnfahrt ohne Begleitung Erziehungsberechtigter stiegen in mir auf:
Die Reise hatte mich in das von Hamburg etwa sechzig Kilometer entfernte Örtchen Scheeßel geführt, zu meinem Ferienfreund Thomas. Ein ganzes, langes Wochenende auf dem Land! Schwimmen, Luftgewehr schießen, Starke treiben, Trecker fahren, Süßigkeiten naschen, fernsehgucken! Kein Herrenzimmer oder brauner Salon oder Luke zwei. Vor lauter Aufregung hatte ich die belegten Brote und die Sprite vergessen. Scheiß auf die Brote, aber die süße, kühle Sprite, mein Lieblingsgetränk! Ein Königreich für die prickelnde weiße Brause. Allein der Name: Sprite, da klingt die Erfrischung doch schon im Wort mit! Der Nahverkehrszug war krachend voll und hielt an jedem, aber wirklich jedem Geister- und Sackbahnhof. Mit eingetrocknetem Gaumen saß ich zwei lange Stunden eingekeilt zwischen lauter Erwachsenen in der morschen Bimmelbahn und langweilte mich zu Tode. Wenigstens hatte ich einen Fensterplatz abbekommen. Auf dem anderen Fensterplatz saß ein Mann, der aussah, als würde er häufiger mal vergessen, sich zu waschen. Das Auffälligste an ihm war sein unwahrscheinlich dicker Nacken (noch viel dicker als der des Fischigen). Einen so dicken Nacken hatte ich überhaupt noch nie gesehen. Wenn er seinen Kopf zurücklegte, warf die von Schweiß, Fett, Staub und Glibberkram überzogene Nackenpartie tiefe Falten, ein Faltenpanorama mit Tälern, Gletschern und Lawinen. Ich fragte mich, ob man so einen Nacken wohl auswringen könne. Der Nackenmannwar abstoßend und faszinierend zugleich, und weil ich sowieso nicht wusste, wo ich hingucken sollte, beobachtete ich ihn, während er dasaß wie ein Ölgötze und immer wieder seinen Nacken ins Panorama zwang. Kurz hinter Sprötze holte der Mann eine Literflasche Fanta aus seiner Reisetasche. Ausgerechnet Fanta, der Todfeind von Sprite! Er trank einen großen Schluck, setzte die Flasche jedoch nicht wieder ab, sondern behielt sie mittels Unterdruck direkt am Mund. Als ob er die Flasche einspeicheln wollte, wie ein Insekt sein Opfer. Mit Hilfe eines sehr starken Giftes verwandelte er die Brause in Spucke und umgekehrt. Igitt, war das eklig. Meine Hände wurden ganz feucht. Bitte, bitte, setz doch ab! Vielleicht war er als Kind nicht richtig gestillt worden, und sein Analytiker hatte ihm empfohlen, das Trauma wegzunuckeln. Oder er war gar kein Mensch, sondern eine Schlupfwespe, die nur darauf wartete, mir in einem Moment der Unachtsamkeit ihren Rüssel in die Eingeweide zu stoßen und mich genüsslich auszusaugen. Wenn alle erwachsenen Fahrgäste ausgestiegen sind, ist das mitreisende Frischfleisch dran, mjammjammjam, die elende Sauferei diente nur dazu, die Magensäfte zu stimulieren. Ich steigerte mich in diese Vorstellung derart hinein, dass ich vor Angst fast ohnmächtig wurde. Irgendwann bemerkte er, wie ich ihn fortwährend anstarrte, und hielt mir freundlich lächelnd die Brauseflasche hin. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. So stellt man sich als Kind die Hölle vor: in kleinen Schlucken die handwarme, nahezu vollständig eingespeichelte Brause eines deutlich älteren Mannes trinken. Mit einer fahrigen Handbewegung winkte ich ab und schaute verzweifeltaus dem Fenster. Der Mann warf seinen Nacken in Falten, setzte die Flasche an den Hals und machte da weiter, wo er aufgehört hatte. Ich weiß auch nicht, wie ich den Rest der Fahrt überstanden habe.
Die Spucke alter Männer sollte zum Leitmotiv meiner Jugend werden, denn das nächste Speicheldrama folgte ein halbes Jahr später: Wie fast alle Jungen meines Alters war ich im Fußballverein, D-Jugend oder so, und unser Trainer, Herr Marquardt, war für einen Jugendtrainer ungewöhnlich alt. Sechzig, oder noch älter. Man munkelte, dass er möglicherweise von der «anderen Fakultät» stamme und die Cheftrainerposition nur übernommen habe, um sich an strammen Jungenpos zu erfreuen. Wir ekelten uns vor ihm, aber da er fachlich unbestritten etwas loshatte und sich nie etwas Einschlägiges zuschulden kommen ließ, bot sich auch keine Möglichkeit, ihn loszuwerden. Der stets etwas traurig dreinblickende Frührentner roch säuerlich, nur an manchen Tagen dünstete sein von Narben übersäter Körper (Kriegsverletzung?) strengen Schnapsgeruch aus. Die fettigen, zerzausten Haare und sein über und über mit Flecken unklarer Herkunft gesprenkelter Trainingsanzug sorgten für eine weitere
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