Die Zunge Europas
Ja.»
Alles klar. Das Einzige, woran man sich noch Jahre später erinnert, ist mein affenartiger Gang. Der seltsam asynchron pendelnde Oberkörper, der ganz woandershin will als die untere Hälfte. Die Schultern steif, eine ewige Fermate, danach kommt irgendwas, und die Beine haben noch einmal einen ganz anderen Rhythmus, Triole gegen Synkope gegen Quintole. Als ob ich mir als Kind einen Splitter in den Fuß getreten hätte, der seither auf einen bestimmten Nerv drückt und mich in diese Watschelbewegung zwingt. Sabine Dausel hatte mal gesagt, ich ginge «wie ein Mülleimer», was auch immer das heißen mochte.
«Du kennst mich wahrscheinlich nicht mehr. Ich bin Janne. Marienkäferweg 24a, das muss jetzt ungefähr zehn Jahre her sein, erinnerst du dich?»
Janne.
Das
sollte Janne sein? Die nervige kleine Dickmadam, der ich mal ein halbes Jahr Englischnachhilfeunterricht gegeben hatte? Eine solche Verwandlung hatte ich überhaupt noch nie gesehen. Vom Saulus zum Paulus.
«Ich setz mich mal.»
«Ach so, jaja.»
«Deine Großeltern wohnen doch auch noch in der Käfersiedlung. Meine Eltern auch. Und mein älterer Bruder, Gunter, kannst du dich noch erinnern?»
«Gunter, der hatte sich doch auf ewig verpflichtet?»
«Zwölf Jahre. Während der Zeit hat er Betriebswirtschaft studiert, und jetzt ist er Unternehmensberater. Er tut jedenfallsso. Er ist seit fünf Jahren verheiratet und hat sich tatsächlich in der Käfersiedlung ein Haus gekauft.»
«Ach herrjemine.»
Plötzlich änderte sich ihr Blick. Forschend, ernst, gläsern, beschlagen.
«Ich bin auch erst seit ein paar Monaten wieder in Deutschland.»
«Ach. Warst du im Ausland?»
Was für eine Frage. Köstlich!
«Die Bundesrepublik hat mich freigekauft.»
«Hä, wie freigekauft? Versteh ich nicht.»
Was sollte das denn jetzt? Wollte sie mir etwas Privates anvertrauen, nach gerade mal zwei Minuten? Vertraulich und ungefragt. So ein uncooler Style passte doch gar nicht zu ihr. Und überhaupt, Geiseln! Freigekauft. Deutsche Geiseln sind so schlimm. Blockieren wochenlang die Hauptberichterstattung der Nachrichtensendungen und sind nach ihrer millionenteuren Auslösung (Vater Staat!) auch noch undankbar oder entpuppen sich als langweilige Trantüten oder beides.
«Bei mir ist einiges schiefgelaufen. Ich war für längere Zeit in Bolivien, und eine Woche vor meinem Rückflug haben sie mir alles geklaut. Geld, Handy, alles außer dem Pass, den hatte ich im Hotel gelassen. Und dann hab ich mich überreden lassen.»
Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.
«Ja. Also überreden lassen. Wozu überreden lassen?»
«Hast du schon mal den Begriff
Maulesel
gehört?»
«Maulesel?»
«Oder Schlucker?»
«Versteh ich nicht.»
«So nennt man Drogenkuriere.»
«Aha. Und darauf hast du dich eingelassen?»
«Ich wusste nicht mehr weiter. Und dann haben die mich am Flughafen gleich geschnappt mit einem halben Kilo Kokain im Bauch. Die haben einen Blick dafür. Ich war wohl aufgedunsen wie ein Hamster, der seine Jungen gefressen hat. Zu zwanzig Jahren bin ich verurteilt worden. Die Gefängnisse da sind das Härteste.»
«Ach. Ja?»
«Im Landesinneren war das, mitten im bolivianischen Urwald. Und ich die einzige Europäerin.»
Ich schaute verlegen weg. Hör doch auf, Mädchen.
«Von den Einheimischen wird das Gefängnis ‹Bananenknast› genannt. Nach einem halben Jahr sind schlagartig fast alle Gefangenen entlassen worden, also alle politischen, und das waren ja fast alles politische, wegen den Fünfzig-Jahr-Feiern der Revolution, die hat der Präsident zum Anlass genommen für einen Gnadenerlass.»
Präsident? Revolution? Fünfzig-Jahr-Feiern? Ich kannte mich in Bolivien nicht so aus.
«Ach ja.»
«Wir waren danach nur noch neun Gefangene, und von denen sind drei in andere Gefängnisse verlegt worden. Zwei sind gestorben, und die letzten drei eine nach der anderen entlassen worden. Am Ende war ich allein. Die einzige Gefangene.»
«Wie, ganz alleine? Ein ganzer Knast für eine Person?»
Sie beugte sich konspirativ vor und senkte ihre Stimme, wie jemand, dem es schwerfällt, über ein schreckliches Erlebniszu sprechen. «Und einen Spitznamen haben sie mir auch gegeben.»
«Spitznamen? Was denn für einen Spitznamen?»
«Mama Bonute.»
«Mama Bonute? Wieso das denn?»
Sie begann zu glucksen und machte eine schwer zu deutende Handbewegung.
«Ich könnte wohl ewig so weitermachen!?»
Ach so, verarscht, wie originell. Sie hatte wohl gleich durchschaut,
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