Die Zunge Europas
löste sich gewissermaßen in nichts auf.
Dieser angenehme Zustand wurde jäh durch einen neuen Gast beendet: Eine junge Frau pflanzte sich an den letzten freien Vierertisch. In meiner Blickrichtung. Eine schwitzende Dicke mit Rucksack, geflochtener Haut und Tina-Turner-Kartoffelstampfern (Tramperin) wäre ja in Ordnung gewesen, aber diese Schönheit mit dem Nimbus einer
Diva vergangener Epochen
war nicht in Ordnung. Diva vergangener Epochen, das war nämlich mein erster Gedanke. Ihr ausgeprägter Mund war fast etwas zu groß für das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den mandelförmigen blaugrauen Augen. Der lange Hals! Die schönen langen Haare! Da war irgendwas Slawisches mit drin. Ganz dezent. Viertel oder Achtel oder Achteltriole oder Sechzehntel. Eine außergewöhnlich schöne junge Frau und, da mir nichts Originelleres einfiel: speziell. Nicht die durchschnittliche, geheimnislose Schönheit ausgelutschter Supermodels, sondern die seltsam entrückte Aura eines ausgestorbenen Typus:
Das theatralisch ausdrucksvolle Gesicht einer Unberührbaren, einer einst weltberühmten Schauspielerin,
die sich nach ihrer großen Zeit weder fotografieren ließ noch in der Öffentlichkeit zeigte, eine, die bereits zu Lebzeiten den eigenen Mythos nährte, aus der Zeit gefallen, in den Dreißigern konserviert.
Entrückte Stammeleien eines Honks. Ich war auch in irgendwas konserviert. Na ja. Der Alkohol. Die Erschöpfung. Aber schön war sie, wirklich wunderschön. Sie schaute in die Karte. Es war doch alles gerade ganz gut gewesen. So eine Scheiße. Die sollte wieder abhauen. Kaum kommt jemand wie sie, ist kein Platz mehr für mich. Vielleicht findet sie ja nichts
zu fressen
und geht gleich wieder. Ich schaute zu den alten Leuten hinüber und dann aus dem Fenster und versuchte, mich wieder auf den Bierglimmer zu konzentrieren. Klappte nicht. Das gewohnte Programm ratterte los: Jede schöne Frau konfrontiert mich sofort mit meinen sämtlichen Unzulänglichkeiten. Die hatte bestimmt auch eine Topfigur, ist ja immer so. Ich hatte das Gefühl, sie anzustarren wie ein idiotisches Tier. Mein Gott, wer oder was war ich eigentlich? Seltsames graubraunes, behindertes Leben, gezeichnet von den Strapazen vieler grimmiger Tage. Plötzlich blickte sie auf und schaute mir direkt ins Gesicht. Erwischt! Als ob ich es geahnt hätte. Noch bevor ich meinen Blick abwenden konnte, lächelte sie. Es war ein offenes, herzliches Lächeln, ohne eine Spur von Geringschätzung, Tadel oder Spott. Meine Reaktion: Ich zuckte mit den Schultern. Tatsächlich. Achselzucken. Was sollte das? Was wollte ich damit ausdrücken? Entschuldigung? Hallo? Ich kann grad nicht? Ein Wahnsinn. Um die Situation halbwegs zu retten, versuchte ich zurückzulächeln. Da ich keine Routine in freundlichen Gesichtern habe, verdrehten, verrenkten und verstauchten sich alle zweiundvierzig für die Mimik verantwortlichen Muskeln, mein Mund blieb in halber Bewegung stecken und erstarrte zur Fratze. Zum Glück kam der Ober, um ihre Bestellung aufzunehmen.
Die
Gelegenheit, endlich pinkeln zu gehen. Danach würde ich mir ein freies Abteil suchen und mich darin bis Hamburg verschanzen. Als ich mich aus der Bank schraubte, wurde mir auch noch schwindlig. Obwohl ich starr geradeaus guckend an ihrem Platz vorbeiging, registrierte ich aus den Augenwinkeln, dass mich ihr Blick verfolgte. Irgendwann reicht’s auch mal. Höfliche Menschen schauen weg, wenn sich jemand schämt oder unwohl fühlt. Metzgergemüt. Ich blieb bestimmt fünf Minuten auf der Bordtoilette, bis ich mich halbwegs wieder gefangen hatte. Mir fiel ein, dass ich noch nicht gezahlt hatte. So eine Scheiße. Als ich auf meinen Platz zurückging, blieb mein Blick kurz an ihrem Hinterkopf hängen. Auch sehr schön. Schöne Menschen sind von hinten oft noch schöner als von vorn. Hässliche sind von allen Seiten gleich hässlich und haben immer platte Hinterköpfe, eine Laune der Natur. Ich schloss die Augen und versuchte, mich auf die kümmerlichen Reste des Alkohols zu konzentrieren. Ach Gott, ach Gott.
Mit einem Mal roch es gut. Ich öffnete die Augen und wäre fast ohnmächtig geworden. Die
Frau
stand vor mir und schaute mich freundlich an.
«Entschuldigung, ich hab die ganze Zeit schon überlegt, bist du Markus?»
«Äh. Ja, genau.»
Wer war das? Was wollte die? Woher kannte die mich? «Ich war mir nicht sicher, aber als du eben rausgegangen bist, hab ich dich an deinem Gang erkannt.»
«Ach so.
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