Die Zunge Europas
Taper, taper, taps, taps. Ich war schon in der Einflugschneise, als ich mit dem Kopf krachend Holz berührte. Die Badezimmertür! Aua! Ich hatte wieder mal die verdammte Badezimmertür sperrangelweit offen stehen gelassen. Ein Elend. Wie oft hatte ich mir schon vorgenommen, Türen und Schränke immer sofort zu schließen, Schlüssel, Portemonnaie und überhaupt ALLES immer sofort an der dafür vorgesehenen Stelle abzulegen, den Wasserzulauf für die Waschmaschine immer sofort wieder zuzudrehen, Backofen, Herd, Licht, Wasser, Keller, Spüle, Fernseher, Toaster abdrehen, abdrehen, abdrehen.
Ein beherzter Schritt in die Lebenstüchtigkeit und gleichzeitig ins endgültig Verschrobene: eine Liste mit den zu kontrollierenden
Einheiten
anfertigen, dreitausend Mal kopieren, in jedem Zimmer aufhängen und abends vorm Schlafengehen abarbeiten. Die erledigten
Posten
mit Häkchen versehen oder markern. König der nervösen Tics, Kaiser der Marotten. Ich knallte die Badezimmertür zu, und die Schlafzimmertür gleich auch noch. War jetzt eh egal, an Schlaf war für viele Stunden nicht zu denken. Erschöpft horchte ich in mich hinein, auf der Suche nach dem schönen Gefühl von gestern. Ich wurde aber nicht fündig, das Gefühl hatte sich über Nacht wohl einen neuen Wirtskörper gesucht. Dafür hatte sich der Kopfschmerz verändert, vom Stechen ins Pochen. Schmerzen können ziehen, pochen, brennen, laufen, drücken, stechen und ziepen. Ziepen ist die harmloseste Variante des Schmerzes, der sog. Kinderschmerz. (Jetzt neu: Kinderfolter
Bambino
: Tausend Nadelstiche, zehn Minuten Stütze, Arm umdrehen, Pferdeküsse.)
Alles andere sind Erwachsenenschmerzen: Ein steifer Nacken zieht, Rückenschmerz ist eine Kombination aus Ziehen, Pressen und Stechen, Wundschmerz pocht und Verbrennungen brennen, wie der Name schon sagt. Undundundoderoderoder. Menschen, die sich ständig verlegen und andauernd auf Toilette müssen, sind deckungsgleich mit denen, wo es zieht und ziept und angeschwollen und entzündet ist. Anfällig eben. Ich ertastete mit meiner Zunge einen Thunfischfaden (S4), war jedoch zu schwach zum Zähneputzen.
Schade, dass Janne so schön war. Wenn man von ihrer Schönheit ungefähr zwei Drittel abziehen würde (Säure-Attentat), könnte das was werden mit uns. Was ich mir nur immer für abartige Sachen zusammendachte. Als ich meine Liegeposition wechselte (Rücken > Seite), spürte ich eine beginnende Erektion. Auch das noch. Lächerlich. Nervig. Ich versuchte, mich auf etwas Neutrales zu konzentrieren (Gebietskörperschaft, Getreidespeicher, Grizzly, unaufgeladene Worte mit G), doch immer wieder schweiften meine Gedanken ab zum Epizentrum meiner aktuellen Sexphantasien, gegen die ich, Desexualisierung hin, Desexualisierung her, manchmal auch nichts machen kann: Zur pferdegesichtigen besten Freundin der Nachbarstochter. Ausgerechnet die. Das ging schon seit ein paar Monaten so. Hin und wieder begegne ich ihr im Hausflur, ich weiß noch nicht mal, wie sie heißt. Die Natur hat es mit ihr nicht gut gemeint: Mit achtzehn (vielleicht ist sie auch neunzehn, aber auf keinen Fall älter als zwanzig) bereits ein kleiner Buckel zwischen leicht hervortretenden Schulterblättern, aus dem bestimmt mal ein großer Buckel wird, dicker Po, noch dickere Oberschenkel und winzige, flache Brüstchen. Außerdem steht ihr Mund immer etwas offen, als wolle sie gleich schlafen gehen oder sei gerade erst aufgestanden. Ihrer ganzen Erscheinung fehlte es sichtlich an
Spannkraft
. Und obwohl sie verhunzt war und sich nach menschlichem Ermessen daran auch nichts mehr ändern würde, übte sie eben eine diffuse sexuelle Anziehung auf mich aus. Beschämend und unerklärlich. Vielleicht war es das Schlaffe, das mich erregte. Oder der Mund mit den dünnen Speichelfäden. Überhaupt Spucke, mein lebenslangerBegleiter. Unter psychologischen Aspekten nicht ganz uninteressant: früher Ekelreiz, heute Schlüsselreiz. War es gar der Buckel? Bestimmt gibt es Männer, für die dieses Manko das Einzige ist, was sie am anderen Geschlecht
überhaupt
interessiert. ALLE Nichtbuckligen werden in Ruhe gelassen, ALLEN Buckligen wird nachgestellt. Buckligenjagd. Rundbuckel, Kreisbuckel, Überhangbuckel, Katzenbuckel oder was es sonst noch so an Buckeln alles gibt. Buckel. Trichterbrust. Hasenscharte. Tubalippe. Entenarsch. Das Schöne erregt interesseloses Wohlgefallen, das Hässliche, Unvollkommene wird begehrt. Wem taugt schon die symmetrische, hochglanzretuschierte
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