Die Zunge Europas
lassen. Jetzt nicht mehr, schön hin, schön her. Wer war ich denn? Eben.
«Ach ja. Tut mir leid. War nicht so gemeint. Das ist leider eine Schwäche von mir. Schlechte Angewohnheit, ist in gewissen Szenekreisen gang und gäbe, hat wohl abgefärbt.»
«Ich bin aber kein Szenekreis. Mich strengt so was einfach nur an.»
«Der Lungenzug ist abgefahren.»
«Was?»
«Fiel mir gerade ein. Wegen Pfeifenrauchern. Hab ich mal gehört. Ich glaub, das war der Titel einer Fernsehreportage. Vielleicht ist dir damit geholfen.»
«Na, mal sehen. Jetzt was Einfaches: Musicalfans.»
«Schnäppchenjäger, Sparfüchse. Betanken ihre Autos an Billigtankstellen in der Pampa und machen die Reservekanister auch gleich noch mit voll. Durchforsten morgensals Erstes die Tagespresse nach günstigen Telefonvorwahlen. Und das ganze Geld, das sie sparen, investieren sie in neue Tickets. Spielen im Winter Dart und boulen im Sommer.»
«Du hast ja vielleicht
grausame
Vorurteile.»
«Wenn man immer nur zurückguckt, ist irgendwann nichts mehr da.»
Der war gut. Jetzt musste ich auch lachen.
«Wo hast du den denn her?»
«Weiß ich auch nicht mehr, irgendwo aufgeschnappt.»
«Sehr gut.»
«Weißt du eigentlich, warum der deutsche Fußball international nicht mehr konkurrenzfähig ist?»
«Nein, warum?»
«Weil die deutschen Profikicker aus dem Stand nur 55 Zentimeter in die Höhe springen können, während ein Durchschnittssportler schon 50 Zentimeter schafft, Spitzensportler anderer Disziplinen dagegen 70 bis 80 Zentimeter. Mehr braucht man doch wohl nicht zu sagen.»
«Das hast du dir bestimmt gerade wieder ausgedacht. Ich glaub dir kein Wort.»
«Du, wir sind gleich am Hauptbahnhof.»
Ach, schon? Schade. Dann doch schade.
«Du musst hier bestimmt raus.»
«So seh ich wohl aus. Ich wohn in einem so langweiligen Stadtteil, dass sich auf dem Weg von der U-Bahn zu meiner Wohnung an der Kleidung Spinnweben bilden. Du wohnst bestimmt in Ottensen oder Altona.»
«So ungefähr. Kannst du mir nicht mal deine Telefonnummer geben?»
«Ach so. Ja.»
Ich kritzelte meine Nummer auf den Reiseplan. Wieso gab sie mir nicht auch ihre Nummer? Ich traute mich natürlich nicht, sie danach zu fragen. Stattdessen:
«Aber nicht anrufen. Ich ruf dich auch nicht an.»
Cooler Spruch. Sie sagte nichts und grinste. Wohlwollend. Ich schrumpfte wieder auf Normalmaß.
«Na ja, dann grüß mir deinen Bruder.»
Die natürliche Distanz zwischen uns war endgültig wiederhergestellt.
«Bis bald, Markus.»
Sie stand auf, legte ihre Hand auf meine Schulter und küsste mich auf die Wange. Das war schön. Wahrscheinlich war es nur deshalb so entspannt und leicht gewesen, weil die Kluft zwischen uns so groß war. Ich machte mir zum Glück nichts vor, und sie wusste sowieso Bescheid. Als ich auf dem Bahnsteig an ihrem Fenster vorbeiging, traute ich mich, ihr einen Blick zuzuwerfen. Sie winkte und machte ein freundliches Gesicht.
Ich stieg eine Station früher aus, holte mir beim Asia-Imbiss S4 (Thunfisch japanische Art) und setzte mich in den Sandpark. Menschenleer, bis auf zwei Omis, die unter der wohlwollenden Aufsicht der Schachfiguren ein munteres Schwätzchen hielten. Über was die wohl immer so sprachen? «Und dann habe ich dem Oheim aber eine so was von geharnischte Epistel geschrieben!» Recht so, schlafen könnt ihr noch genug! Der Holzpyjama bleibt noch eine Weile im Schrank hängen, und der Sensenmann hat bis auf weiteres Hausverbot.
Der Thunfisch schmeckte für Imbissfraß sensationell.Die benutzen immer frischen Koriander. Was das ausmacht! Mit frischen Kräutern kann man sich den Einsatz von Geschmacksverstärkern sparen, und die Salzkeule sowieso. Nach einer Weile wurde ich müde und schlurfte nach Haus. Manchmal tapert man, manchmal watschelt man, manchmal stolziert man, und heute schlurfte ich eben. Es ging mir zur Abwechslung mal ganz gut. Das musste fürs Erste reichen.
MITTWOCH
Das Leben kann man nicht bescheißen
Irgendwann in der Nacht wurde ich vom laufenden Fernseher geweckt. Zu öffentlich-rechtlichen Zeiten, als die Nächte spätestens um ein Uhr in hell brausendem, beruhigendem Flimmern untergingen, war mir so etwas nie passiert. In dem hell brausenden, beruhigenden Flimmer hatten sich unzählige winzige Männer in weißen Overalls getummelt und meinen Schlaf bewacht. Egal, es galt, den Dämmer für den kurzen Weg ins Schlafzimmer zu konservieren, husch, husch, ins Körbchen, Äuglein schließen und weiterschlafen.
Weitere Kostenlose Bücher