Die Zunge Europas
beißt sich die Supernanny die Zähne aus, und das Bootcamp bleibt denen auch erspart. Am Tisch dahinter saß ein Rentnerpaar, das einen mit dem Leben ausgesöhnten Eindruck machte. Die Frau trank Rot-, der Mann Weißwein. Er hatte die Eigenart, am Glas nur zu nippen und die winzigen Schlucke unendlich langsam auf der Zunge zergehen zu lassen. Ganze Schnauze voll Wein. Das jedenfalls pflegte die Zunge bei der Weinverkostung für gewöhnlich zu sagen. Von Wein verstand Onkel Friedrich nämlich auch etwas. Zunge ist Zunge ist Zunge. Die Frau schaute ihren Mann liebevoll an, dann blickte sie aus dem Fenster. Dann wieder zum Mann. Das Leben war halbwegs gut gelaufen, und jetzt konnten sie einfach mal nur so sitzen.Auch der Kellner fügte sich ins friedliche und freundliche Bild. Er sah aus, als wäre er schon über siebzig. Alles an ihm war sympathisch nachlässig, die ausgebeulte Knitterhose, das zerknitterte Beulenjackett mit Schuppennestern auf beiden Schultern, die wirren, gelbstichigen Haare, sogar das Hemd hing aus der Hose. Toll. Er brauchte niemandem mehr etwas zu beweisen und freute sich, so kurz vor der Pensionierung, sicher schon auf die Subventionsmilliarden, die bald auf sein Privatkonto fließen würden. Vielleicht war es sein Lebenstraum, als Weltraumtourist den Mars oder wenigstens den Mond zu bereisen. Meinen Segen hatte er.
Immer öfter halten Kreationen von fernsehbekannten Starköchen Einzug in die Bahnspeisekarte: «Dialog von Kresseschaum-Salbeisüppchen und Kochschinkentatar». «Monolog vom Kotelett» wäre mir lieber gewesen, haha. Gleich aufschreiben.
«Guten Tag. Ein großes Bier.»
«Pils haben wir nur null drei.»
«Ach so, ja, stimmt. Na, dann eben Weizen.»
«Danke.»
«Na dann, fein, danke auch.»
Ich nahm mir vor, nachher ein paar ganz einfache Sachen zu erledigen, die gestern liegengeblieben waren: Uhr am Computer richtig stellen, Kopf der elektrischen Zahnbürste austauschen, welken Blumenstrauß entsorgen. Die Nerven hatten jetzt Feierabend. Und der Kopf. Und Bauch, Beine, Po und überhaupt alles. War das alles wieder ein Stress gewesen. Der ganze Tag ein einziger Stressor. In Stressor klingt schon Aggressor mit. Stress, Stress, Stress.Das Wort gibt es auch noch nicht ewig, Großmutter hat es jedenfalls in ihrem ganzen Leben nicht einmal benutzt. Scheiße kommt in ihrem Wortschatz auch nicht vor. Na ja, nicht ganz, ein einziges Mal habe ich es sie vor sich hin murmeln hören, im Zusammenhang mit dem engen, dunklen, ungünstig geschnittenen Käferhaus: «Scheißhaus». Ich habe mal gelesen, «Stress» sei eine Kreation
amerikanischer Wissenschaftler
, die, stolz auf ihre Entdeckung, nichts Besseres zu tun hatten, als unverzüglich auch den Rest der Welt mit der einsilbigen Worthülse zu überziehen. Cola. Star Wars. Elvis. Levis. Stress. Unter extremen Stresssituationen konfiguriert sich das Gehirn bisweilen neu. Die Prozessoren werden dann in Reihe geschaltet und erlauben eine rasend schnelle, sequenzielle Informationsverarbeitung. Dann produziert der Kopf statt schwach angereicherter Gedanken intelligente Algorithmen. Makroskopische Skalen, Inflation. So was in der Art. Ein Quatsch schon wieder.
Das Bier schmeckte herrlich. So gut hatte mir Bier noch nie geschmeckt, aber das kommt einem bei Bier öfter mal so vor. Jedoch nur bei Bier. Geheimnis Bier. Herrlich, diese Anflutung, die leider viel zu kurze Phase zwischen Nüchternheit und Rausch, in der die quälende, gestochen scharfe Wahrnehmung der Realität mit jedem Glas ungenauer wird. Amerikanische Wissenschaftler könnten zur Abwechslung mal was Sinnvolles erfinden, eine Pille etwa, mit der sich dieser erste Teil des Rausches stabilisieren ließe. Man wäre nicht mehr gezwungen, weiterzusaufen, sondern wirft eine Tablette ein, und alles bliebe so schön, wie es gerade ist. Den ganzen Tag leicht angesoffen, was für eine herrliche Vorstellung. Abgesehen davon, dassexzessives Trinken in chronischen Depressionen endet. Schwergewicht und Schwergemüt Ernest Hemingway legte deshalb immer wieder längere Trinkpausen ein. Es ging ihm dann zwar deutlich besser, aber dafür langweilte er sich entsetzlich. Den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Langeweile ist verdünnter Schmerz (Ernst Jünger). Fortan pendelte Hemingways Leben zwischen Langeweile und Depression hin und her, unschlüssig, wie es sich entscheiden sollte. Das Ende kennt man ja. Herrlich, der Glimmer. Ich döste vor mich hin, und der Tag verlor seinen Schrecken, er
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