Die Zunge Europas
Neunziger die Einkaufswagenchips eingeführt wurden?»
«Was kommt denn jetzt?»
«Da ging eine Welle der Solidarität durchs Volk. Die Leute haben nicht gewartet, bis ihre Vorgänger den Einkaufswagen zurückgeschoben haben, sondern mit einer gezückten Mark ‹Hier bitte schön, kann ich Ihren Wagen haben› oder so gesagt. Die Menschen haben wieder miteinander gesprochen. Aber nur am Anfang, das ist schon bald verebbt, und jeder hat sich seinen Einkaufswagen selbst gezogen.»
«Da war ich noch zu jung.»
«Deswegen erwähn ich’s. Und die Einkaufschipaffäre war der Anfang vom Ende von Jürgen Möllemann.»
«Ach, Jürgen Möllemann, der Fallschirmspringer.»
«Genau, Riesenstaatschef Mümmelmann. Sein Schwager oder so besaß eine Fabrik, die die Chips herstellte, und Möllemann hat sich dafür eingesetzt, dummerweise auf offiziellem Ministerbriefpapier. Das war’s dann.»
«Ach so.»
«Genau, von wegen langweilig.»
Die Treppe, die zum
Pudel
hinunterführte, war überfüllt. Hundert? Hundertfünfzig? Oder noch mehr?
«Wie viele Leute hier wohl auf der Treppe sitzen. Ich kann so schlecht schätzen.»
«Normalerweise sagen das immer die Frauen, dass sie schlecht schätzen können.»
«Dann eben nicht.»
Der
Golden Pudel Klub
hatte im neunzehnten Jahrhundert als Kurzzeitknast für Schmuggler gedient, die im Hafen auf frischer Tat ertappt worden waren. Bevor sie in ein reguläres Gefängnis überführt wurden, mussten sie ein paar Tage in der dunklen Kaschemme schmoren, wahrscheinlich war Klaus Störtebeker der erste Stammgast gewesen (mal richtig rechnen, du Opfer!). In dem von tiefen Rissen durchzogenen Gebäude quollen Drähte aus allen möglichen Löchern und Spalten. Das sah gefährlich aus und war bestimmt auch gefährlich. Es gab sicher niemanden, der
genau
wusste, wo die Drähte herkamen und wo sie hingingen und ob sie Strom führten oder nicht. Von Rechtswegen hätte das Haus längst eingestürzt oder abgebrannt sein müssen, dass es trotz Hausschwamm, Hausbock, unzähligen Wasserschäden und nicht vorhandener Statik immer noch stand, kam einem Wunder gleich. Der
Pudel
gilt seit Ewigkeiten als coolster Club der Stadt, und das in HH, wo, wie in allen Großstädten, die Halbwertzeit für angesagte Locations begrenzt ist. Die mittlerweile in die Jahre gekommene Gründergeneration und deren Sympathisanten haben den nachrückenden Teenyhorden Platz gemacht, die die eigentliche Bedeutung nicht mehr kennen und sich auch nicht sonderlich dafür interessieren. Im
Pudel
ist jeden Abend was los, meist wird aufgelegt, gelegentlich spielen Bands auf der winzigen Bühne. Sonntag und Montag sind Insidernächte für Szenegänger, am Wochenende ist es wie überall bunt gemischt.
Nachdem wir uns die Treppe hinuntergezwängt hatten, beschlich mich auf einmal ein ungutes Gefühl. Ich war mir plötzlich sicher, dass der Abend kippen würde. Ein Königreich für ein Steak-House, schnell essen, anschließend ohne Abendbrot ins Bett. Etwas anderem fühlte ich mich nicht mehr gewachsen. Ausgerechnet jetzt, wo die Nacht ihren Sinn bekam und alles Vorherige belanglos wurde, denn erst jetzt fallen die
Entscheidungen
. Die einen steigen auf in der Nacht, die anderen stürzen ab.
«Komm, lass reingehen.»
«Aber nur Bier holen.»
«Ich will aber auch nochmal tanzen heute.»
Drinnen war es unerträglich heiß, die Luft schwer und verbraucht. Wie nannte man eigentlich die
Musikrichtung?
Techno? Gab es Techno überhaupt noch? Elektro? Dixie?Oder vielleicht was ganz anderes, etwas, von dem ich noch nie gehört hatte? Meine Güte, was wusste ich eigentlich? Kein Wunder, wenn man ausschließlich NDR 1 Welle Nord hört (Oma, Opa, Tante, Onkel).
Der Weg, den ich oft in Gedanken geh,
Führt am Fluss entlang zum See,
Und zu dir, denn dort wartest du am Blue Bayou.
Unter Bäumen liegt ein Haus,
Es sieht wie im Märchen aus,
darin wohnen die Liebe und du, am Blue Bayou.
Das alles hier hatte mit dem schönen Blue Bayou nichts zu tun, weniger ging nicht. Wahnsinnig peinlich, dass ich noch nie hier gewesen war. In der Kunsthalle war ich auch noch nie, und im Planetarium auch nicht, obwohl es gleich um die Ecke liegt (Stadtpark). Janne drängelte sich zum Tresen, ich blieb an der Tür stehen. Die ungünstigste Stelle im ganzen Laden, aber ich traute mich nicht weiter hinein. Sie kam erstaunlich schnell zurück und drückte mir wortlos ein Bier in die Hand. Schon wieder Bier, immer nur Bier. Bier, Bier, Bier. Bierfolter.
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