Die Zwanziger Jahre (German Edition)
weggelassen.
Wenn mein Vater aus dem Krieg hätte zurückkehren können, wäre ich wohl eines Tages Präsident von Werder Bremen geworden, wie ich meinen Freund Franz Böhmert, den leider viel zu früh verstorbenen Werder-Präsidenten, immer geneckt habe. Aber so blieb meine Mutter in Altendiez, wo sie einer Landwirts- und Bäckerfamilie entstammte. In schlechten Zeiten ist es gut, Bauern und Bäcker in der Familie zu haben.
Altendiez, gelegen am rechten Ufer der Lahn, die den Westerwald vom Taunus trennt, war damals ein Bauerndorf mit weniger als tausend Einwohnern; heute sind es rund 2300. Neben dem Bäcker gab es Schuster, wo wir unsere Bälle und Fußballschuhe flicken ließen, Schmiede, kleine Lebensmittelläden und vier Wirtschaften, wo sich nicht nur die Fußballer trafen. Bei der recht willkürlichen Länderneugliederung nach dem Krieg wurde unser Dorf zwar dem zusammengestückelten Bundesland Rheinland-Pfalz zugeteilt, aber die Altendiezer orientierten sich eher zum hessischen Limburg, das uns traditionell viel näher lag als Koblenz.
Auch meine Großmutter väterlicherseits zog nach Altendiez und wurde neben meiner Mutter zu meiner wichtigsten Bezugsperson. Dem Enkel, der dem verstorbenen Sohn so sehr ähnelte, galt ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit. In meiner Familie fühlte ich mich geborgen, auch als meine Mutter wieder heiratete. Mein Stiefvater, ein Landwirt aus Altendiez, dessen erste Frau bei der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter gestorben war, erwies sich als Seele von Mensch. Er hat mich behandelt wie sein eigenes Kind. Einen Vater habe ich jedenfalls nicht vermisst, auch wenn ich bei den Erzählungen meiner »Frauen«, zu denen auch Tante Ursel zählte, die deutlich jüngere Schwester meiner Mutter, oft an meinen leiblichen Vater erinnert wurde. Und wie gern hätte ich ihn mal gefragt, wie es zu all dem Schrecklichen kommen konnte. Waren es die Umstände, waren es die Menschen? Warum ließ sich ein ganzes Volk korrumpieren?
Auf dem Schoß der Großmutter: als Kind beim Gruppenfoto in Altendiez (©Privat).
Meine Eltern halfen nach Kräften, den Hof zu bewirtschaften, der den Schwiegereltern meines Stiefvaters gehörte. Meine Mutter hatte dort keine einfache Zeit, denn ihr kam wahrlich keine Chefrolle zu. Wie sehr sie zeitweise unter der Dominanz der Hofbesitzer gelitten hat, spürte ich schon als kleiner Junge. Unsere Bäckerei war derweil verpachtet, denn die Gesundheit meines Großvater hatte stark unter den Nachwirkungen des Krieges gelitten, und er konnte den Betrieb nicht weiterführen.
Meine Familie akzeptierte schon früh, dass ich einen anderen Weg ging als den vorgezeichneten. Wegen meiner guten Schulleistungen wechselte ich nach vier Jahren in unserer Dorfschule, wo mehrere Klassen gleichzeitig von einem Lehrer unterrichtet wurden, aufs Gymnasium in Limburg, statt, wie meine Verwandten und Vorfahren, mich der Landwirtschaft zu widmen. Nicht jeder verstand, dass ich meine Nase lieber in Bücher steckte. Natürlich habe ich auch auf dem Feld geholfen, bei der Kartoffelernte, beim Dreschen oder im Stall, vor allem in den Sommerferien, wenn ich nicht gerade mit meiner Großmutter in Bremen war.
Meine Verbundenheit zur Landwirtschaft äußerte sich vor allem darin, dass ich wöchentlich das Milchgeld im Dorf austrug und mir damit ein Taschengeld verdiente. Für diesen Job war es hilfreich, dass ich schreiben und rechnen konnte, denn die Auszahlungen mussten fein säuberlich in entsprechende Listen eingetragen werden. Damals gab es in Altendiez 72 Milchkannen, die von den Bauern an einem sogenannten Milchbock abgestellt und von der Molkerei abgeholt wurden. Mein Monatslohn betrug stolze 18 Mark. Der Milchbock war auch ein beliebter Treffpunkt der Dorfjugend, von wo sie loszog, um ihr Unwesen zu treiben. Heute gibt es in Altendiez keine Milchbauern mehr; mein allererster Beruf ist also den Zeitläufen zum Opfer gefallen.
Was uns Jungs in den Bann zog, war der Fußball. Wir trafen uns nach der Schule auf dem Turnplatz oder in den Bauernhöfen und spielten auf die Scheunentore, die Jüngeren und die Älteren, alle gemeinsam. Höhepunkte waren die Spiele gegen die Nachbarorte, wenn wir mit unserem schwarzen Gummiball unter dem Arm nach Heistenbach oder Diez zogen, um die Vorherrschaft auf dem Fußballfeld zu klären.
Diese Lokalderbys haben wir natürlich selbst organisiert, Schiedsrichter hatten wir keine, und wenn es Streit gab über Abstoß oder Ecke, Tor oder drüber, Foul oder nicht
Weitere Kostenlose Bücher