Die Zwanziger Jahre (German Edition)
Foul, mussten wir uns untereinander einigen. So lernten wir wie nebenbei Respekt und Fair Play. Der Fußball hat uns erzogen. Ich finde es deshalb heute sehr gut, wenn in den jüngsten Kinderklassen bewusst auf Schiedsrichter verzichtet wird. Lasst die Kinder spielen, sie sind vernünftiger als manche Erwachsene.
Auf dem Sportplatz fanden wir auch die Vorbilder, nach denen wir uns sehnten. Aus Zeitungsberichten und Radioübertragungen war uns Fritz Walter schon lange ein Begriff, und in den Tagen der Weltmeisterschaft 1954 lernten wir auch seine Kameraden kennen und lieben. Mit jedem Sieg der Herberger-Elf wuchs die Euphorie, und zum Endspiel am 4. Juli marschierte ich mit meinem Stiefvater ins vier Kilometer entfernte Hirschberg.
In der dortigen Wirtschaft war auf Stühlen und Tischen ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher aufgebaut, der Gastraum war hoffnungslos überfüllt, und als Helmut Rahn das legendäre 3:2 erzielte, sprangen alle auf, Tische und Gläser stürzten um, und wir Kinder, die wir direkt vor dem Fernsehapparat auf dem Boden saßen, bekamen unsere erste Bierdusche.
Dieser 4. Juli hat uns, wie alle Jungs unserer Nachkriegsgeneration, nachhaltig geprägt. Der Triumph der Herberger-Elf lehrte uns: Wenn man sich richtig reinhängt und sein Bestes gibt, kann man große Ziele erreichen. Fritz Walter und seine Kameraden – das waren unsere Helden auf dem Turnplatz, mit denen wir uns identifizierten; wer im Tor stand, eiferte Toni Turek nach, auf Rechtsaußen stürmte immer Helmut Rahn, und wer am schnellsten und längsten laufen konnte, fühlte sich wie Host Eckel.
Mich persönlich hat schon damals auch der ungarische Fußball gepackt und fasziniert – Weltklasse-Fußballer wie Ferenc Puskás, Sándor Kocsis, Nándor Hidegkuti. Ich kann bis heute nicht nur alle Spieler der deutschen Weltmeisterelf aufzählen, sondern auch die Ungarn, die mit ihrer Wundermannschaft vier Jahre lang in 31 Länderspielen ungeschlagen geblieben waren – bis zur Finalniederlage 1954. Von diesen Idolen haben wir geträumt, davon, eines Tages einmal so gut zu werden wie sie.
Wir spielten in der Schülermannschaft des VfL Altendiez. Ich fühlte mich als Halbstürmer am wohlsten, spielte das, was man heute einen Zehner nennt. Ich konnte gut mit dem Ball umgehen, war aber nicht der Lauffreudigste. Mit achtzehn Jahren wechselte ich in die erste Mannschaft, und gleich in meinem ersten Jahr schafften wir den Aufstieg von der A-Klasse in die Zweite Amateurliga. Ich habe nie so viele Tore geschossen wie in dieser Spielzeit. Einmal besiegten wir Nievern mit 12:2 (Halbzeit 4:2), drei Tore waren von mir.
Unsere Heimatzeitung lieferte nicht nur das falsche Ergebnis (12:4), sondern auch einen eher knappen Spielbericht, der dem Jahrhundertereignis nicht wirklich gerecht wurde: »In der ersten Halbzeit leisteten die Gäste erbitterten Widerstand und konnten das Spiel offen halten. Nach Wiederbeginn fand Altendiez zu seiner gewohnten Form und spielte den Gast an die Wand. Kein Wunder, dass nunmehr die Tore wie reife Früchte fielen. Die Torschützen waren Erich Jonas (4), Zwanziger (3), Metzler (Handelfmeter), Jost (Foulelfmeter) und Stein (30-Meter-Schuss).«
»Tore wie reife Früchte«: die 1. Mannschaft des VfL Altendiez, Halbstürmer Theo Zwanziger zweiter von links (©Privat).
Meine Mutter und meine Großmutter zeigten erstaunlich viel Verständnis für meine Fußballleidenschaft und sogar auch dann, wenn ich in der Schule mal Mist gebaut hatte. Nach einer völlig verhauenen Klassenarbeit schwindelte meine Mutter dem Lehrer vor, ich sei zu Hause beschäftigt gewesen und habe nicht richtig lernen können. Hinterher machte sie mir klar, dass dies eine Ausnahme und ich für meine Angelegenheiten selbst verantwortlich war. Ihre Hilfe war gleichzeitig Wegweisung, bei uns regierten nicht Strenge und Bestrafung und schon gar keine Handgreiflichkeiten. Das war in der Schule damals anders, da gab’s schon mal was mit dem Stock auf die Finger.
Auch im Gymnasium. Mit meinem Freund Winfried Hirschberger, der heute Landrat im pfälzischen Donnersbergkreis ist, besuchte ich die Thilemanschule in Limburg. Frühmorgens um sechs gingen wir los, zu Fuß zweieinhalb Kilometer bis zum Bahnhof in Diez, mit dem Zug nach Limburg und dann noch einmal einen guten Kilometer bis zur Schule.
Ich war ein recht guter Schüler, musste allerdings wegen einer Wiederholungs-Fünf in Latein die Untertertia, die achte Klasse, wiederholen. Doch danach gab es bis zum
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