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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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hatte.
    Noch im Mantel, die Haare glitzernd von Regentropfen, schneite sie in mein Zimmer und brachte eine Brise kalter und nach Veilchen duftender Luft mit sich. Ich hatte inzwischen nur noch eine leicht erhöhte Temperatur und war wieder so gut auf den Beinen, dass ich versuchte, ihr entgegenzugehen. Sie fiel mir sofort um den Hals, umarmte mich stürmisch und legte mir ihre eiskalte Hand auf die Stirn.
    »Wie geht’s dir? Wie fühlst du dich?«, fragte sie besorgt.
    »Besser als gestern und hoffentlich schlechter als morgen.«
    Wir ließen uns zusammen auf meinem Bett nieder. Meine Mutter steckte den Kopf zur Tür herein und fragte, ob wir eine heiße Milch oder einen Tee haben wollten.
    Irene ließ sich haarklein alle meine Symptome schildern, um am Ende eine Virusgrippe zu diagnostizieren, die auf ein von Stress geschwächtes Immunsystem zurückzuführen sei und durch meine Gewohnheit, auch bei Minusgraden mit einer einfachen Lederjacke herumzuspazieren, noch befördert worden wäre. Ich strahlte sie nur an und gab ihr uneingeschränkt recht.
    Sie fragte mich nicht nach Ivan. Das hatte sie schon am Telefon getan, und ich hatte ihr gesagt, dass es zwischen uns ein Streitgespräch gegeben hätte (ich habe tatsächlich den Ausdruck »Streitgespräch« benutzt). Irene hatte gemeint, dass es ihr leidtäte, und war nicht mehr auf das Thema zu sprechen gekommen.
    Stattdessen unterhielten wir uns über die Schule. Sie berichtete mir, dass Angela und ihre Komplizinnen von meiner Abwesenheit keinerlei Notiz genommen hätten, aber dafür Alex sehr wohl. Er hatte Irene am Freitag gleich zu Schulbeginn gefragt, wie es mir gehen würde.
    Ich biss mir auf die Lippen. »Und was hast du gesagt?«
    »Nichts Genaues, nur einfach, dass du krank bist.« Sie schwieg einen Moment. »Er hat mich gefragt, ob ich glaube, dass du dich über einen Anruf von ihm freuen würdest.«
    Einen Anruf.
    »Was hast du geantwortet?«
    »Dass es dir so schlecht gehen würde, dass du nicht mal mir reden könntest.« Sie sah mich unsicher an. »War das falsch?«
    »Nein, nein, das war sehr gut.« Die Vorstellung, einen Anruf von Alex zu bekommen, während ich in Tränen aufgelöst auf Ivans Nummer starrte, war nicht unbedingt dazu angetan, mich aufzuheitern.
    Irgendwann kam meine Mutter mit Milch und Keksen. Sie überschüttete Irene mit einer Salve von Komplimenten – wegen ihrer Haare, ihrer Haut, ihrer Ohrringe und ich weiß nicht was noch alles – und ließ uns dann wieder allein.
    Meine Freundin grinste ein wenig verdutzt. »Deine Mutter ist aber sehr nett.«
    »Meine Mutter ist etwas … zu sehr von allem!« Wir lachten beide.
    Wir naschten weiter Pralinen und redeten über alles Mögliche oder besser gesagt, Irene redete. Sie war offenbar fest entschlossen, mich aufzuheitern, und tat dies wie immer mit viel Feingefühl. Ich hörte ihr lächelnd zu, schloss ab und an die Augen und nahm zum ersten Mal seit meiner Flucht aus der Krypta wieder Kontakt mit der Welt der Normalität auf. Es gab dort draußen nicht nur Monster und wahnsinnige Priester, nicht nur Unsterbliche und Mädchen, die man in eine andere Welt entführte: Es gab da noch immer die ganz normale Realität, in der auch ich bis vor wenigen Wochen gelebt hatte. Simpel, verständlich, langweilig und sicher.
    Wieder einmal bekam ich Lust, meiner Freundin um den Hals zu fallen. Sie war mein Rettungsanker, sie war es immer gewesen, seit dem Moment, in dem wir uns vor sechs Monaten zum ersten Mal begegnet waren.
    Es war an meinem ersten Tag in der neuen Klasse. Ich war allein, ziemlich verstört und von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Ich hatte alles angezogen, was sich an schwarzen Klamotten in meinem Schrank finden ließ, in der Hoffnung, dass mich diese Rüstung vor fremden Blicken schützen würde. Obendrein war ich zu spät, weil ich nicht genügend Erfahrung mit der Metro hatte. Im ganzen Klassenzimmer war nur noch ein einziger Platz frei, und zwar neben einem bulligen Jungen, der mich angesichts der Vorstellung, ein Mädchen neben sich zu haben, noch erschrockener ansah als ich ihn. Ich steuerte bereits völlig resigniert auf ihn zu, als sich in einer anderen Bankreihe ein Mädchen erhob, das ich in meiner Benommenheit nur als eine glänzende Masse schwarzer Haare wahrnahm: Sie flüsterte dem Jungen etwas zu, und schon suchte er in aller Windeseile seine Siebensachen zusammen und tauschte blitzartig mit ihr den Platz. Erst beim Hinsetzen gelang es mir, inmitten der Haarmähne ein

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