Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Peitsche.«
»Nein.« Diesmal vibrierte Ivans Stimme mit einer solchen Intensität, dass ich nicht anders konnte, als ihn durch meine Tränen hindurch anzusehen, auch wenn ich mir zugleich verzweifelt wünschte, ihn nie wiedersehen zu müssen.
Und ich erkannte ihn. Diesmal erkannte ich ihn wirklich, trotz tränenverschleiertem Blick und heftig schmerzendem Herzen. Hoch aufgerichtet stand er da, mit geballten Fäusten, die schwarzen Augen lodernd vor Trotz, der Held, den ich erst vor zwei Wochen kennengelernt hatte, und in den ich mich verliebt hatte, als hätte ich das ganze Leben nur auf ihn gewartet.
Sein Vater ging vom anderen Ende des Kreises auf ihn los, den Kiefer so angespannt, dass seine Lippen zitterten. »Du darfst kein Mitleid mit dem Wolf haben! Er wird mit uns auch keins haben! Er ist in unsere Welt gekommen, um Leben zu vernichten, und viele Tausende hat er bereits vernichtet.«
Ivan schüttelte wütend den Kopf. »Sie ist nicht der Wolf. Sie ist Veronica. Der Wolf ist mit Gewalt in sie eingedrungen, weil er es gewollt hat. Sie trifft keine Schuld.«
»Aber jetzt ist sie vom Wolf besessen! Wir können nichts daran ändern, weder ich, noch du, noch sonst jemand. Wir müssen ihn jetzt in die Dunkelheit jagen!«
»Nein.« Ivans Stimme war auf einmal kristallklar und scharf wie eine Messerklinge. »Das wirst du nicht tun. Ich werde dir nicht erlauben, ihr wehzutun. «
»Dann werde ich es sein, der …«
Aber Ivan ließ ihn den Satz nicht zu Ende bringen. Er schoss nach vorn, das Bein gestreckt, wie um jemandem einen Fußtritt zu versetzen, so schnell, dass meine Augen ihm kaum folgen konnten. Aber sein Fuß traf keinen Menschen, er sauste auf den Blütenkreis herab und zerfetzte ihn mit einer einzigen, blitzartigen Bewegung.
Wie in einem Windzug, der das Licht einer Kerze löscht, verflüchtigte sich das Gewicht, das mich niedergedrückt hatte. Das Feuer in meinem Kopf war geblieben, genauso wie die glühend heiße Luft und der schreckliche Gestank des Eisenhuts, aber der Druck hatte sich in Nichts aufgelöst.
Ich wirbelte hoch, mit einem Brüllen, das mir fast die Lungen zerriss und jedes andere Geräusch und jeden Gedanken ausradierte. Trotzdem gelang es mir irgendwie, Ivans Stimme zu hören, die mit aller Kraft schrie: » LAUF, VERONICA! LAUF !«
Ich stürzte auf die geschlossene Tür zu, die Blütenwolke ignorierend, die emporstieg, als ich darüber hinwegfegte, und die meine Beine in einen lodernden Schmerz tauchte. Zwischen mir und der Tür stand der Mann, der sie zugesperrt hatte, der drahtige, kahl rasierte Priester, der mich einen Moment lang voller Entsetzen anstarrte. Er hob instinktiv die Peitsche, um sich zu schützen, aber ich merkte es nicht einmal. Ich rammte ihm meine Schulter gegen die Brust, sodass er davonflog wie eine Strohpuppe und gegen eine Säule krachte.
Einen Sekundenbruchteil später schlug ich gegen die Tür: Sie war aus Metall und machte einen schrecklichen Lärm, als sie unter meiner Wucht zu Boden knallte.
Ich fiel nach vorn auf die unterste Stufe der Treppe, rappelte mich aber sofort wieder auf und hatte plötzlich Ivans Vater vor mir, dem es irgendwie gelungen war, den Raum so blitzartig zu durchqueren. Er stürzte sich auf mich und schwang seine Peitsche. Ich packte das erstbeste Ding, das ich finden konnte, und schmetterte es ihm entgegen. Erst im Rückblick wurde mir klar, dass es die Tür gewesen war, die ich gerade niedergerannt hatte.
Ich sah ihn schreiend nach hinten fallen und in der Dunkelheit des Kellers verschwinden. In einer unglaublichen Geschwindigkeit rannte ich die Treppe rauf und flüchtete.
DER ZWEITE MOND
»Das Fürchterliche ist nicht für das Herz des Menschen!«
Hugo von Hofmannsthal, Elektra
Kapitel 23
Samstag, 28. Februar, und Sonntag, 1. März
Zunehmender Mond
I ch lag drei Tage lang mit Fieber flach. Ich weiß nicht, ob es eine körperliche Reaktion auf den Schock war oder eine Reaktion des Wolfes auf den Kontakt mit dem Aconitum, aber von Mittwoch bis Samstagfrüh fiel das Fieberthermometer nie unter achtunddreißig Grad.
Meine Mutter saß rund um die Uhr an meinem Bett, ließ ihre zahlreichen Verpflichtungen sausen und tat alles, was ihr in den Sinn kam, damit es mir besser ginge: Sie verordnete mir Heilmittel, die ausnahmsweise nicht homöopathisch waren – was wirklich fast nie vorkam und bewies, wie sehr sie sich um mich sorgte –, und sie kochte all meine Lieblingsgerichte, um mich zum Essen zu bewegen. Sie leistete
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