Die zwei Monde: Roman (German Edition)
ein Dichter einen »milchigen Teint« nennen würde, was meine Mutter aber schlichtweg als »Leichenblässe« bezeichnete –, daher leuchteten die Höfe um jede der Wunden wie mit einem Lippenstift gemalt. Das Blut hingegen hatte die Farbe von Teer.
Vorsichtig drehte ich den Fuß zur Seite: Es handelte sich um Löcher, deutlich unterscheidbar, in zwei parallel laufenden Reihen auf beiden Seiten des Knöchels. Ich starrte ziemlich lange darauf, bevor mir bewusst wurde, was ich da vor mir hatte. Eigentlich hatte ich noch nie eine solche Wunde gesehen, aber von der Form her war es offensichtlich: ein Biss. Der Biss eines großen Hundes.
Unmöglich. Ich war von einem Hund angefallen und blutig gebissen worden, und ich konnte mich nicht daran erinnern?
Ich ging den ganzen gestrigen Tag noch mal durch. Es war ein Sonntag, deshalb hatte ich guten Gewissens bis nach zwölf geschlafen und allein zu Mittag gegessen: Meine Mutter war mit ihren Freundinnen unterwegs, mein Vater keine Ahnung wo. Dienstliche Verpflichtungen bestimmt, auch am Sonntag. Danach hatte ich eine Zeit lang was für die Schule gemacht, und später war ich ausgegangen: Ich war ins Zentrum gefahren, um ein Geschenk für Elena zu besorgen …
Elenas Geburtstag! Das war es, da war ich gestern Abend. Schlagartig tauchten in meinem Kopf eine Reihe von bruchstückhaften Erinnerungen auf, wie ein Haufen unscharfer Fotos, die nun in einem völligen Durcheinander auf dem Tisch lagen: funkelnde Gläser, die hellen Lichter des Lokals, Elena und Angela, die lachten …
Sonst nichts. Ich konnte mich nicht mal mehr erinnern, wie ich nach Hause gekommen war.
Offensichtlich hatte ich mir den unglaublichsten Rausch meines Lebens eingehandelt. Wenn meine Mutter das mitbekommen hätte, hätte sie mich schon mit einem Satz Ohrfeigen aus dem Bett geholt … Aber damit würde es bald vorbei sein. Trotz meiner verfahrenen Lage entlockte mir der Gedanke ein Lächeln: Fünf Wochen noch, dann wäre ich volljährig und würde endlich all das tun und lassen können, was ich wollte, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen.
Im Moment aber hatte ich dringendere Probleme. Ich versuchte klar zu denken. Erstens: Meine Mutter durfte absolut nichts merken. Abgesehen von all den Fragen, auf die ich keine Antwort hatte – Was ist denn nur passiert? Ja, wo denn? Warst du alleine? Und wie bist du wieder nach Hause gekommen? –, wäre sicherlich ihre erste Reaktion, mir ihre üblichen »alternativen« Heilmethoden aufzuschwatzen: eine Pendeldiagnose, ein Umschlag mit magnetisiertem Wasser oder vielleicht eine Heilstein-Behandlung …
Was mich unweigerlich zum zweiten Punkt brachte: Ich musste das Bein einem Arzt zeigen. Ich zwang mich, Worte wie Tollwut und Wundstarrkrampf aus meinen Gedanken zu verbannen (ohne viel Erfolg); zu unserem Hausarzt konnte ich nicht gehen, und auch nicht zu einer Notaufnahme: In meinem Ausweis stand noch immer, dass ich erst siebzehn war, also hätten sie todsicher bei mir zu Hause angerufen.
Die Schule hatte eine Krankenstation. Ich war noch nie da gewesen, aber Irene, meine Banknachbarin, die an Anämie, niedrigem Blutdruck und ich weiß nicht was sonst noch für seltsamen Krankheiten litt, landete regelmäßig einmal die Woche dort. Wenn ich dahin gehen würde, ließe es sich dann irgendwie verhindern, dass meine Eltern davon erfuhren? Nachher in der Schule würde ich Irene gleich fragen, ob …
Der Radiowecker explodierte in eines dieser das Trommelfell terrorisierenden Trällerliedchen, wie sie nur am frühen Morgen gespielt werden. Ich schnellte so abrupt hoch, dass ich fast aus dem Bett gefallen wäre. Offensichtlich hatte meine Mutter den Wecker auch noch lauter gestellt.
Auf einem Bein hüpfend stürzte ich mich auf ihn und sorgte für Ruhe. Das Display zeigte sieben Uhr am Montagmorgen, und seltsamerweise war die Lautstärke so eingestellt wie immer. Und doch war es mir so unglaublich laut vorgekommen …
»Nica, bist du wach?«, kam die Stimme meiner Mutter durch die geschlossene Tür.
Sie war natürlich schon seit einer halben Stunde auf den Beinen. Jeden einzelnen Tag des Jahres stand sie um Punkt halb sieben auf und ging immer um dieselbe Uhrzeit ins Bett, getreu dem Prinzip, dass man »den energetischen Zirkadianzyklus des menschlichen Körpers dauerhaft konstant halten müsse«.
»Ja!«, antwortete ich und hüpfte zum Fenster.
Ich öffnete es und klappte die Fensterläden nach außen: Eine Woge feuchter, eiskalter Luft
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