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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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mir Gesellschaft, wenn sie annahm, dass ich sie brauchte, und ließ mich allein, sobald ich sie darum bat; abends fragte sie mich sogar, ob sie mir eine Geschichte erzählen sollte, wie damals, als ich noch ein Kind gewesen war. Ich schäme mich nicht, einzugestehen, dass ich akzeptierte, und für eine Weile fühlte ich mich wieder wie eine Neunjährige, die nur eine einzige Sorge im Leben hat: bis zum Sonntag gesund zu werden, um rauszukommen und mit den Freundinnen spielen zu können.
    Ich stellte fest, dass ich meine Mutter liebte, so sehr, dass ich einen Kloß im Hals hatte, sobald ich nur daran dachte. Aber ich sagte es ihr nicht, weil ich vermutlich in Tränen ausgebrochen wäre.
    Ich weinte ziemlich viel in jenen Tagen, im Grunde immer, wenn ich allein war. Ich weinte so viel, dass ich oft das Gefühl hatte, nicht mehr weinen zu können, weil alles, was mir bis zum Lebensende an Tränen zur Verfügung stand, bereits vergossen war. Stattdessen entdeckte ich bei jeder neuen Heulkrise, dass ich immer noch Tränen hatte.
    Das erste Mal weinte ich im Haus des Conte, zu dem ich wie eine Verrückte geflüchtet war, nachdem ich die Tür der Krypta eingerannt hatte. Ich kann mich so gut wie gar nicht erinnern, wie ich dort hingekommen bin, was vermutlich besser ist: Ich glaube, ich bin auf das Dach eines fahrenden Autos gesprungen, und vielleicht auch auf ein paar Balkone, und das mitten an einen Mittwochnachmittag. Trotzdem hörte ich in den darauffolgenden Tagen nichts von seltsamen Ereignissen in der Nähe der Piazza Missori, kein Zeitungsartikel berichtete irgendetwas über ein Mädchen, das auf Balkons herumgeflogen wäre. Vielleicht war ich so schnell gewesen, dass mich niemand richtig gesehen hatte, oder die potenziellen Zeugen hielten das Ganze für Einbildung. Ich hatte ja in letzter Zeit oft genug erlebt, wie talentiert die Leute darin sind, Dinge zu übersehen, die sie nicht sehen wollen. Wer weiß, welche Erklärung jener Autofahrer für die Fußspuren auf seinem Dach gefunden hat.
    Das Fenster des Conte stand weit offen, und als ich hineinflog, riss ich Regina fast um, die mit panischem Gesichtsausdruck und einer bunten Decke in den Händen direkt danebenstand. Sie mummelte mich sofort ein, dirigierte mich zu einem kleinen Sofa und kniete sich vor mich hin; dann nahm sie meine Hände zwischen die ihren – genau, wie Irene es immer tat – und drückte sie sanft, bis das Zittern nachließ.
    Wenige Sekunden später kam der Conte, beinahe im Laufschritt und in seinem roten Schlafrock. Zum ersten Mal erlebte ich ihn überrascht und fassungslos. Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass Regina ihm diesmal mein Kommen nicht angekündigt hatte und er nur deshalb so schnell angelaufen kam, weil er den Aufprall gehört hatte, mit dem ich in seinem Wohnzimmer gelandet war.
    Er trug Regina auf, etwas Warmes zum Trinken zu machen, setzte sich vor mich hin und sah mir lange in die Augen. Dabei sagte er kein Wort, und ich spürte einmal mehr die beruhigende Wirkung seines Blickes, der mein Herz nach und nach wieder ruhiger schlagen ließ. Erst als ich aufhörte zu zittern und eine ganze Tasse Gewürztee getrunken hatte, fragte er mich, was geschehen sei.
    Und ich erzählte ihm alles: Ich erzählte ihm von Ivan, wie er sich mir genähert hatte, dass ich seine Stimme aus den Erinnerungen des Wolfes nicht wiedererkannt hatte, wie er sich in der Krypta gegen seinen Vater gestellt und mir die Flucht ermöglicht hatte. Dabei weinte ich ununterbrochen.
    Der Conte hörte zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen, dann schenkte er mir eine weitere Tasse Tee ein und versicherte mir in seinem gewohnt ruhigen Ton, dass die Gefahr vorüber sei. Ich solle nach Hause gehen und mich so verhalten, als sei nichts geschehen. Zu Hause würde mir keine Gefahr drohen, so viel wäre sicher. Er riet mir dazu, in den nächsten Tagen nachts nicht aus dem Haus zu gehen und auch tagsüber zu Hause oder an belebten Orten zu bleiben; in der Zwischenzeit würde er sich darum kümmern, anhand der Informationen, die ich ihm gegeben hatte, herauszufinden, was die Luperci mit mir vorhatten.
    Dann ließ er sich von Regina das Telefon bringen, rief ein Taxi, verfrachtete mich in den Wagen und gab dem Taxifahrer meine Adresse (die ich ihm, wie mir im Nachhinein einfiel, nie verraten hatte). Bevor er die Wagentür hinter mir zuschlug, empfahl er mir, ganz ruhig zu sein und mit meinem nächsten Besuch bei ihm ein paar Tage zu warten.
    In meinen Fiebernächten

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