Die zwei Monde: Roman (German Edition)
war total überfüllt wie jeden Morgen. Ich drückte mich an die Wand und schloss erneut die Augen: In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als zu Hause geblieben zu sein.
Zum Glück waren die fünfundzwanzig Minuten Fahrt vom Stadtrand bis zum Parini-Gymnasium weniger schrecklich als befürchtet. Allerdings standen die Leute um mich herum so dicht gedrängt, dass ich auch dann nicht umgefallen wäre, wenn ich die Füße vom Boden gehoben hätte (was ich tatsächlich tat, um meinen verletzten Knöchel zu entlasten).
Ich versuchte, mir darüber klar zu werden, was mit mir vor sich ging: Es war, als wäre die ganze Welt um mich herum lauter geworden, und zwar nicht nur in meinen Ohren, sondern auch in meinen Augen und sogar in den Nasenlöchern. Alles war zu hell, zu bunt, zu grell, die Stimmen der Leute verursachten einen Höllenlärm, und das Kreischen der Metro kam mir vor wie das Brausen eines tosenden Wasserfalls. Und erst der Geruch … Der Geruch der Leute um mich herum, wahnsinnig intensiv, bunt durchmischt, vielschichtig und so dicht, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn er wie Wasserdampf an den Fenstern kondensiert wäre.
Aber je mehr Zeit verging, desto mehr ließ das Gefühl nach, und als ich endlich an meiner Haltestelle ausstieg und mich humpelnd auf den Weg in das graue Licht des Morgens machte, ging es mir schon etwas besser.
In der Schule angekommen, versuchte ich, so schnell wie möglich nach oben zu gelangen: Da ich am Stadtrand wohnte – was bedeutete, dass ich um sieben Uhr aufstehen musste, während ich in Ravenna einen Fußweg von exakt vier Minuten gehabt hatte –, war ich immer die Letzte, die das Klassenzimmer betrat.
Meine Mitschüler hatten sich in Trauben im ganzen Raum verteilt und lümmelten, in verschiedene Gesprächswolken gehüllt, auf Bänken, Heizungen und Fensterbrettern herum; kaum einer saß auf seinem Stuhl. Ich blieb für einen Moment in der Tür stehen: Zwanzig Jungs und Mädchen, alle in meinem Alter, Gedanken wie die meinen, Leben wie meins. Zwanzig fast Fremde, die ich seit über vier Monaten jeden Morgen sah: Ich kannte die Namen von allen, die Handynummern von einigen, die Adresse von keinem.
In Ravenna hatte ich siebzehn Jahre mit denselben Freunden verbracht. Ich kannte sie von Kindesbeinen an, sie waren meine Nachbarn und Klassenkameraden seit Grundschulzeiten. Hier in Mailand war ich gezwungen, neue Freunde zu finden: eine völlig neue Herausforderung, für die ich, wie ich feststellen musste, wenig Talent hatte.
Ich atmete tief durch. Wovor hätte ich Angst haben sollen? Ich hatte den schwarzen Rollkragenpullover an, der mir so gut stand, meine Haare waren in Ordnung (oder fast), und ich trug die Ohrringe, die mir meine Freundinnen aus Ravenna zum Abschied geschenkt hatten. Sie waren ein Glücksbringer für mein neues Leben. Ich war also okay. Ich würde jeder Musterung standhalten können.
Also nahm ich die Schultern nach hinten, trat über die Türschwelle und bewegte mich auf meinen Platz in der vorletzten Reihe zu, bemüht, dabei so wenig wie möglich zu humpeln. Wie zufällig warf ich einen Blick nach rechts, auf das Ende der zweiten Reihe, wo sich gerade die größte und auffälligste Gruppe aufhielt: ein Haufen Jungs, die sich ganz offensichtlich um Angela und ihre Freundinnen geschart hatten.
Die allerdings hatten im Moment gar keinen Nerv für ihren kleinen privaten Hofstaat.
Sie hatten nur Augen für mich .
Wer schon mal einen Manga gelesen hat oder japanische Zeichentrickfilme kennt, hat eine Vorstellung von dem Terzett, das Angela, Elena und Susanna bildeten. Ich, die ich schon mehr Mangas und Animes verschlungen hatte, als gut für mich war, war ihnen im Lauf der Jahre immer wieder begegnet, allerdings noch nie im richtigen Leben: Hätte mir in Ravenna jemand die drei beschrieben und mir gesagt, dass es sich um reale Lebewesen und nicht um gemalte Figuren handelte, hätte ich ihm wahrscheinlich nicht geglaubt.
Noch nie hatte ich sie getrennt voneinander gesehen: Sie gingen zu dritt spazieren, sie lernten zu dritt, sie gingen am Samstagabend zu dritt aus – beziehungsweise zu sechst, aber dann mit wechselnden Begleitern –, und selbstverständlich gingen sie in der Pause auch gemeinsam auf die Toilette, wie eine Riege von drei Heroinen, vereint und stark im Kampf gegen das Böse. Oder eher gegen alles, was nicht nach ihrem Geschmack war.
Elena war die größte von ihnen: Sie überragte ihre beiden Freundinnen um eine
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