Die zweite Haut
ihre eigene Frage, bevor Marty es konnte. »Aber klar können sie. Wenn manche Menschen gut geboren werden können, wie du und Mommy, dann müssen auch welche böse geboren werden können.«
Marty sog die Reaktion der Mädchen in sich auf und freute sich über sie. Auf einer Ebene war er Schriftsteller, speicherte ihre Worte ab, den Rhythmus ihrer Sprache, ihrer Mienen, falls er es einmal in einem Buch verwenden konnte. Er nahm an, es war nicht besonders bewundernswert, selbst die eigenen Kinder als Studienmaterial zu betrachten; möglicherweise war es sogar moralisch verwerflich, aber er konnte nicht anders. So war er eben. Aber gleichzeitig war er auch Vater und verwahrte den Augenblick im Geiste, weil er eines Tages nur noch Erinnerungen an ihre Kindheit haben würde, und er wollte imstande sein, sich an alles zu erinnern, das Gute und das Böse, winzige Augenblicke und große Ereignisse, in Technicolor und Dolby Stereo und vollkommen klar und deutlich, weil ihm alles zu kostbar war, als daß er es verlieren wollte.
Emily sagte: »Hat der böse Zwillingsbruder des Nikolaus einen Namen?«
»Ja«, sagte Marty, »er hat einen, aber ihr müßt auf einen anderen Abend warten, bis ihr ihn erfahrt. Wir haben das Ende des ersten Teils erreicht.«
Charlotte streckte den Kopf unter der Decke hervor, dann bestanden beide Mädchen darauf, daß er den ersten Teil des Gedichts noch einmal lesen sollte, was er vorher gewußt hatte. Aber selbst beim zweiten Mal würden sie noch zu aufgeregt zum Schlafen sein. Sie würden auf einem dritten Vorlesen bestehen, und er würde gehorchen, denn dann würden sie so vertraut mit den Worten sein, daß sie sich beruhigen konnten.
Wenn er mit dem dritten Vorlesen fertig war, würden sie entweder tief schlafen oder gerade am Eindösen sein.
Als er wieder mit der ersten Zeile anfing, hörte Marty, wie sich Paige umdrehte, zur Tür hinaus und zur Treppe ging. Sie würde im Wohnzimmer auf ihn warten, möglicherweise mit einem prasselnden Feuer im Kamin, möglicherweise mit Rotwein und einer Kleinigkeit zu essen, und sie würden sich aneinanderkuscheln und von ihrem Tag erzählen.
Fünf Minuten des Abends, jetzt oder später, würden interessanter für ihn sein als eine Reise um die Welt. Er war ein hoffnungsloser Stubenhocker. Die Freuden von Herd und Familie waren verlockender für ihn als die geheimnisvollen Sandwüsten Ägyptens, die Pracht von Paris und die Geheimnisse des Fernen Ostens zusammengenommen.
Als er seinen beiden Töchtern zublinzelte und wieder las: »Als Thanksgiving glücklich vorüber war«, hatte er vorübergehend vergessen, daß heute nachmittag etwas Beunruhigendes in seinem Arbeitszimmer geschehen und sein häuslicher Friede gestört worden war.
8
In der Blue Life Lounge streift eine Frau an dem Killer entlang und rutscht auf den Barhocker neben ihm. Sie ist längst nicht so schön wie die Tänzerinnen, aber für seine Zwecke attraktiv genug. Sie trägt braune Jeans und ein rotes T-Shirt und könnte eine ganz gewöhnliche Kundin sein, aber das ist sie nicht. Er kennt ihren Typ – eine käufliche Venus mit dem Geschick einer geborenen Buchhalterin.
Sie beginnen eine Unterhaltung, indem sie sich dicht zueinander beugen, damit sie einander über den Lärm der Band hinweg verstehen können, und wenig später berühren sich ihre Köpfe fast. Ihr Name ist Heather, behauptet sie jedenfalls. Ihr Atem riecht nach Pfefferminz.
Als sich die Tänzerinnen zurückziehen und die Band eine Pause macht, hat sich Heather überzeugt, daß er kein Cop von der Sitte ist, daher wird sie kühner. Sie weiß, was er will, sie hat, was er will, und sie läßt ihn wissen, daß sie ihm, wenn er kaufen will, was zu verkaufen hat.
Heather erzählt ihm, daß auf der anderen Straßenseite ein Hotel liegt, wo man Zimmer stundenweise mieten kann, wenn ein Mädchen dem Management bekannt ist. Das überrascht ihn nicht; es gibt Gesetze der Lust und der Ökonomie, die so beständig wie Naturgesetze sind.
Sie zieht ihre lammfellgefütterte Jacke an, dann gehen sie gemeinsam in die kalte Nacht hinaus, wo ihr Pfefferminzatem in der frischen Luft zu Dampf kondensiert. Sie überqueren den Parkplatz und die Straße Hand in Hand, als wären sie ein Liebespärchen an der High School.
Obwohl sie weiß, was er will, hat sie ebensowenig wie er eine Ahnung, was er braucht. Wenn er bekommen hat, was er will, und wenn das das brennende Verlangen in ihm nicht stillen konnte, wird Heather das Muster der
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