Die zweite Haut
rot und gelb; die von Emily aus beigem Chenille. In Charlottes Hälfte regierte das Durcheinander; die von Emily war blitzblank.
Dann waren da die Haustiere. Auf Charlottes Seite des Zimmers standen in einem Einbauregal das Terrarium, welches das Zuhause von Fred der Schildkröte war; das große Einmachglas, in dem Bob der Käfer inmitten von Laub und Gras wohnte; der Käfig von Wayne der Rennmaus; ein zweites Terrarium, dessen Bewohner Sheldon die Schlange war; ein zweiter Käfig, worin Whiskers die Maus eine Menge Zeit damit verbrachte, trotz Draht und Glas zwischen ihnen Sheldon zu beobachten; und ein letztes Terrarium für Loretta das Chamäleon. Charlotte hatte nicht einsehen wollen, daß ein Kätzchen oder ein junger Hund ein angemesseneres Haustier gewesen wären. »Hunde und Katzen laufen dauernd herum, man kann sie nicht in einem sicheren kleinen Heim halten und beschützen«, erklärte sie.
Emily besaß nur ein Haustier. Sein Name war Peepers. Es war ein Stein von der Größe einer kleinen Zitrone und jahrzehntelang vom fließenden Wasser des Baches Sierra glatt geschliffen, in dem sie ihn vor einem Jahr in den Sommerferien gefunden hatte. Sie hatte zwei schmachtende Augen darauf gemalt und behauptete: »Peepers ist das beste Haustier von allen. Ich muß ihn nicht füttern oder hinter ihm saubermachen. Er ist schon seit ewigen Zeiten hier, also ist er echt klug und weise, und wenn ich traurig oder wütend bin, dann erzähle ich ihm, was mich bedrückt; er hört sich alles an und wird ganz traurig, und dann muß ich nicht mehr darüber nachdenken und kann fröhlich sein.«
Emily konnte Gedanken äußern, die oberflächlich gesehen kindlich waren, aber bei eingehenderer Betrachtung tiefschürfender und reifer zu sein schienen, als man es von einer Siebenjährigen erwarten sollte. Wenn Marty in ihre dunklen Augen sah, dann kam es ihm vor, als wäre sie sieben, ginge aber auf vierhundert zu, und er konnte es kaum erwarten zu sehen, wie interessant und vielschichtig sie sein würde, wenn sie erwachsen war.
Als ihre Haare gebürstet waren, krochen die Mädchen in ihre Betten, ihre Mutter zog die Decke über sie, gab jeder einen Kuß und wünschte ihnen angenehme Träume. »Laß dich nicht von den Bettwanzen beißen«, warnte sie Emily, weil der Satz sie immer zum Kichern brachte.
Als Paige zur Tür ging, zog Marty einen Lehnstuhl von seinem üblichen Platz an der Wand und stellte ihn ans Fußende genau zwischen die beiden Betten. Er löschte sämtliche Lichter, abgesehen von einer kleinen Leselampe über seinem offenen Notizbuch und einer leuchtenden Micky Maus neben der Steckdose über dem Boden. Er setzte sich auf den Stuhl, hielt das Notizbuch in Lesedistanz und wartete, bis das Schweigen dieselbe Aura freudiger Erwartung angenommen hatte wie in einem Theater, wenn sich langsam der Vorhang hebt.
Die Stimmung war vorbereitet.
Dies war die glücklichste Zeit von Martys Tag. Die Gutenachtgeschichte. Was auch immer passieren mochte, nachdem er morgens aufstand, er konnte sich immer auf die Gutenachtgeschichte freuen.
Er schrieb die Geschichten selbst in ein Notizbuch mit der Aufschrift Gutenachtgeschichten für Charlotte und Emily , das er eines Tages vielleicht sogar veröffentlichen würde. Oder auch nicht. Jedes Wort war ein Geschenk für seine Töchter, daher lag die Entscheidung, die Geschichten mit anderen zu teilen, ganz bei ihnen.
Heute abend sollte eine ganz besondere Geschichte beginnen, eine Geschichte in Reimform, deren Fortsetzungen bis Heiligabend reichen würden. Vielleicht konnte sie ihm helfen, die beunruhigenden Ereignisse in seinem Arbeitszimmer zu vergessen.
»Als Thanksgiving glücklich vorüber war,
mehr Truthahn gegessen als letztes Jahr …«
»Es reimt sich!« sagte Charlotte entzückt.
»Psssssst!« wies Emily ihre Schwester zurecht.
Es gab wenige, aber wichtige Regeln des Geschichtenerzählens, und eine davon besagte, daß das aus den beiden Mädchen bestehende Publikum nicht mitten im Satz, oder im Fall eines Gedichts mitten in der Strophe, unterbrechen durfte. Ihre Kritik wurde geschätzt, ihre Reaktion gewürdigt, aber dem Erzähler mußte der gebührende Respekt entgegengebracht werden.
Er begann erneut:
»Als Thanksgiving glücklich vorüber war,
mehr Truthahn gegessen als letztes Jahr,
mehr Füllung, Kartoffeln, Gemüse zuhauf
in die Münder geschaufelt bis obenauf.
Und nach Biskuits, Salaten und süßem Gebäck
paßt uns kein Hemd mehr, es hat keinen
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